Branche bangt um Geschäftsgrundlage

Der Entwurf für das neue Versicherungsvertragsgesetz enthält 212 Paragrafen. Einer von ihnen hat die Sprengkraft, das System der Lebensversicherung in Frage zu stellen

 

VON Herbert Fromme und Anja Krüger Wenn der vom Justizministerium vorgelegte Entwurf für das neue Versicherungsvertragsgesetz in jetziger Form in Kraft tritt, brechen die Aktienmärkte zusammen, muss die Bundesregierung eine neue Rentenreform beschließen, weil Riester- und Rürup-Renten Makulatur sind, wird der Finanzplatz Deutschland geschwächt – jedenfalls dann, wenn das Szenario der Versicherungswirtschaft Realität wird.

 

„Versicherer könnten keine nennenswerten Aktienpositionen mehr halten“, warnte schon im März kurz nach der Veröffentlichung des Entwurfs Bernhard Schareck, Präsident des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). „Garantieprodukte in der heutigen Form können nicht mehr angeboten werden“, schreibt der GDV in seiner offiziellen Stellungnahme. Die Versicherer könnten „sozialpolitisch erforderliche Garantieprodukte“ nicht mehr anbieten. Das bedeute das Ende von Riester- und Rürup-Renten.

 

Das Justizministerium hat den Aufruhr mit einer einfachen Formulierung entfacht. Nach Paragraf 153 des Entwurfs müssen Lebensversicherer stille Reserven spätestens zwei Jahre nach ihrer Feststellung den Kunden gutschreiben. Stille Reserven entstehen, wenn etwa die Kurse von Aktien steigen und damit der Marktwert über dem Buchwert der Papiere liegt.

 

„Steigen die Aktien um 30 Prozent und müssten wir die Hälfte der daraus resultierenden stillen Reserven den Versicherten gutschreiben, würde jeder nachfolgende Aktiencrash, der die Aktien um 20 Prozent wieder abwertet, zu Verlusten der Unternehmen führen“, argumentierte Schareck. Auch für festverzinsliche Kapitalanlagen sei die Gutschrift wenig sinnvoll – hier entstehen stille Reserven meistens aus fallenden Zinsen und verflüchtigen sich bei steigenden Zinsen wieder. Mit Paragraf 153 reagiert die Politik auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2005, in dem es eine angemessene Beteiligung der Kunden an den stillen Reserven verlangt.

 

Das habe das Ministerium aber mit seinem Entwurf falsch interpretiert, schimpft der GDV. Die Versicherer argumentieren, die Lebensversicherung sei auf die langfristige Erfüllung von Garantien angelegt. Die Versicherer bräuchten deshalb stille Reserven, um Schwankungen an den Kapitalmärkten ausgleichen und die Zusagen an ihre Kunden erfüllen zu können.

 

In der Theorie ergibt das Sinn – aber die Wirklichkeit sieht anders aus. So war die Assekuranz nicht in der Lage, ausreichende Puffer aufzubauen, um den Börsencrash des Jahres 2001 auszuhalten. Damals musste der Bundestag im Eilverfahren die Bildung „stiller Lasten“ genehmigen, um eine Pleitewelle zu verhindern. Für das Entstehen der Krise aber hatten die Versicherer keinen Gesetzgeber gebraucht – das vermochten sie ganz allein durch wettbewerbsgetriebene hohe Gutschriften an ihre Kunden.

 

Hinzu kommt, dass die Kapitallebensversicherung nicht das langfristige Vorsorgeprodukt ist, als das die Versicherer es gerne sehen. In Deutschland gibt es rund 65 Millionen Kapitallebensversicherungen. Sehr viele davon wurden als steuerbegünstigte Kapitalanlage verkauft, oft sogar ausdrücklich als Steuersparmodell. Rund die Hälfte aller Verträge wird vorzeitig gekündigt. In Wirklichkeit war die Kapitallebensversicherung jahrzehntelang vor allem eine beliebte mittelfristige Kapitalanlage.

 

Diesem Umstand hat das Verfassungsgericht Rechnung getragen, als es mehr Transparenz und eine bessere Behandlung der vorzeitig ausscheidenden Kunden verlangte.

 

Allerdings gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass Paragraf 153 so nicht stehen bleibt – selbst die Verbraucherschützer lieben ihn nicht. Lilo Blunck, Vorsitzende des Bunds der Versicherten, sieht darin eine Bevorzugung von Kunden, die just vor einer Kapitalmarktkrise ausgestiegen sind. Auch das Finanzministerium und die Finanzaufsicht BaFin scheinen sich gegen die jetzige Form des Paragrafen zu positionieren. Der oberste BaFin-Versicherungsaufseher Thomas Steffen sieht Anzeichen dafür, dass der umstrittene Entwurf in entscheidenden Punkten nachgebessert wird. „Das Problem ist die verbindliche Zuschreibung“, sagte Steffen. Allerdings: Ganz ohne Neuregelung für die Beteiligung der Kunden an den stillen Reserven wird die Branche nicht davonkommen. Sie selbst hat einen sehr komplizierten Vorschlag gemacht, bei dem von den Reserven zunächst sehr hohe Risikopuffer abgezogen werden, der Rest wird dann gutgeschrieben.

 

Ob das Geschäftsmodell der Lebensversicherer weiterhin trägt, hängt ohnehin weniger davon ab, welche gesetzlichen Mechanismen greifen, als vielmehr von der Konkurrenzfähigkeit gegenüber anderen Angeboten. Garantien bieten auch die Fondsanbieter – ohne eine vorzeitige Kündigung durch ihre Kunden mit saftigen Stornoabzügen zu bestrafen.

 

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Heilloses Durchein- ander: Die Gesetzesreform trifft die deutsche Lebensversicherung ins Mark

Quelle: Financial Times Deutschland

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