Aus der Provinz in die erste Liga

Die deutsche Assekuranz steckt mitten in einem weitreichenden Strukturwandel. Hannover als eine der großen Versicherungsstädte ist direkt betroffen – zumeist als Gewinner, gelegentlich auch als Verlierer

VON Herbert Fromme und Benedikt Fuest Vor 15 Jahren mussten die Topmanager amerikanischer Versicherer die Stadt Hannover noch im Atlas suchen. Heute ist die niedersächsische Landeshauptstadt ein fester Begriff in den Chefetagen der US-Assekuranz. Der Rückversicherer Hannover Rück war früher einer von vielen, heute gehört das Unternehmen zu den vier größten Rückversicherern der Welt. Auf der Kundenliste stehen illustre Namen, die Hannoveraner sind einer der wichtigsten Rückversicherer des US-Giganten AIG.

Ganz leise hat sich die Versicherungswirtschaft in Hannover aus der Provinzecke in die Topliga gearbeitet. Das schlägt sich auch in der Arbeitsplatzbilanz nieder. „Während in der Industrie 42 000 Arbeitsplätze verloren gingen, konnten die Dienstleister über 60 000 Arbeitsplätze zulegen“, sagt Jes-Peter Hansen von der Wirtschaftsförderung Hannover. „Wesentlichen Anteil daran haben die Versicherungsunternehmen und Finanzdienstleister in der Stadt.“

Auch auf Talanx, mit 50,1 Prozent Mehrheitsbesitzer der Hannover Rück, trifft das zu. Seit der Übernahme des Kölner Gerling-Konzerns ist der einstige Haftpflichtverband der Deutschen Industrie (HDI) Deutschlands größter Industrieversicherer, knapp vor dem bisherigen Marktführer Allianz. Schon vorher hatte die Gruppe mit zahlreichen Zukäufen für hohes Wachstumstempo gesorgt.

Talanx gehört zu den Gewinnern der Umstrukturierung der deutschen Versicherungswirtschaft – ausgelöst durch die Deregulierung des Marktes und eine direkte Auswirkung der Krise im Gefolge des Börsencrashs. Gerling war fundamental angeschlagen, Talanx hatte rechtzeitig durch den Verkauf von knapp der Hälfte der Hannover Rück die Kriegskasse gefüllt. Die Übernahme von Gerling ist aber nicht einfach positiv für Hannover. Die Fusion kostet insgesamt 1800 Arbeitsplätze – nicht nur bei Gerling. Die Lebensversicherung will Talanx in Köln bündeln, viele Mitarbeiter müssen umziehen. Andererseits zieht der Konzern die Kernsparte Industrieversicherung in Hannover zusammen. „Wir wollen unseren Heimatstandort stärken und werden hier das Sachversicherungsgeschäft konzentrieren“, sagt Talanx-Sprecher Thomas von Mallinckrodt.

Bei so viel Begeisterung für den Champion fällt es kaum auf, dass der französische Rückversicherer Scor still und leise sein Deutschland-Hauptquartier an der Leine schließt und nach Köln verlegt, wo er gerade eine andere Firma gekauft hat.

Kostendruck und Restrukturierung treffen auch Hannoveraner Versicherer. Die mittelgroße Concordia hatte sich etwas übernommen im heftigen Preiskampf um Marktanteile in der Autoversicherung, jetzt stehen Personalabbau und die Suche nach einem Partner an. Als idealen Heiratskandidaten sieht die Branche den Nachbarn VHV, der bereits Erfahrungen mit Sanierungsübernahmen hat – 2003 musste die schwer angeschlagene Hannoversche Leben bei VHV andocken.

Geradezu ein Hort der Stabilität ist da die Versicherungsgruppe Hannover (VGH), die als öffentlich-rechtlicher Versicherer eng mit den Sparkassen kooperiert. „Jedes dritte Wohnhaus in Niedersachsen ist von uns versichert“, sagte Sprecherin Chris Förster. Gegründet 1750 als Landschaftliche Brandkasse Hannover, steht auch dieses Unternehmen vor dramatischen Veränderungen. Die regional arbeitenden öffentlichen Versicherer wollen aus Kostengründen größere Einheiten schaffen, in Niedersachsen stehen die vier Unternehmen in Hannover, Braunschweig, Aurich und Oldenburg vor einem Zusammenschluss. Ein Problem: Bisher ist nicht klar, wem die VGH gehört. Kontrolliert wird sie von den Landschaften, das sind regionale Körperschaften aus Kommunen, Adel und Geistlichkeit. Jetzt hat das Land Niedersachsen im Prinzip zugestimmt, dass die Landschaften Eigentumsrechte haben. Damit kann eine Fusion stattfinden. Aber Finanzminister Hartmut Möllring ist in der Diskussion zu dem überraschenden Ergebnis gekommen, dass dem Land rund 75 Prozent der Versicherer gehören – wird also unter dem Dach der Sparkassen-Finanzgruppe fusioniert, will das Land kassieren.

Ein Erfolgsfaktor für die Stadt ist die gute Ausbildung der Spitzenkräfte. Die Landesregierung regte 2002 die Gründung eines Kompetenzzentrums Versicherungswissenschaften an. Daran beteiligt: die Universität Hannover mit den Fächern Versicherungsbetriebslehre und -mathematik, die Universität Göttingen (Versicherungsrecht) und die Medizinische Hochschule Hannover (Versicherungsmedizin). „Durch die interdisziplinäre Forschung können wir besonders praxisnah arbeiten“, sagt Ute Lohse vom Kompetenzzentrum.

Zitat:

“ „Jedes dritte Wohnhaus in Niedersachsen ist von uns versichert“ “ – Chris Förster, VGH –

Bild(er):

Ihre Wurzeln hat die Versicherungsgruppe Hannover (VGH) in der „Brand-Assecurations-Societät“, die um 1750 im Palais der Calenberger Landschaft an der Osterstraße (l.) gegründet wurde. Um 1850 schloss diese sich mit anderen Brandkassen des Kurfürstentums Hannover zur Landschaftlichen Brandkasse (M.) zusammen. Die Hannover Rück (r.) zählt heute zu den vier größten Rückversicherern der Welt – VGH-Archiv (2); picture-alliance/dpa

Quelle: Financial Times Deutschland

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