Der Ausfall von Zulieferern kann Betriebe schwer treffen. Nicht alle Schädendaraus lassen sich versichern
Friederike Krieger
Ende März erschütterte eine gewaltige Explosion den Chemiepark Marl am Rande des Ruhrgebiets. Eine Anlage des Unternehmens Evonik, das dort Cyclododecatrien produzierte, war in die Luft geflogen. Die Chemikalie dient als Ausgangsstoff zur Produktion von Kunststoffen, die im Automobilbau, der Fotovoltaikindustrie und in Offshore-Leitungen dringend benötigt werden. Das Unglück, bei dem zwei Mitarbeiter ihr Leben verloren, war deshalb nicht nur für Evonik ein Desaster, sondern auch für seine Abnehmer. Das Chemieunternehmen musste die Kunden auf längere Lieferengpässe einstimmen.
Wenn ein wichtiger Zulieferer ausfällt, kann das für ein Unternehmen zu großen Problemen führen. Im schlimmsten Fall kommt es zu dem gefürchteten „Bandabriss“: Die Produktion muss vorübergehend eingestellt werden, weil wichtige Rohstoffe fehlen. „Das ist eines der Worst-Case-Szenarien“, sagt Hanns Martin Schindewolf, Versicherungschef des Automobilherstellers Daimler. Eine Firma müsste dann nicht nur mit den Kosten für die Betriebsunterbrechung fertig werden, sondern zusätzliches Geld investieren, um alternative Anbieter oder Werkstoffe zu finden. Dauert es zu lange, bis die Produktion wieder anläuft, wenden sich eventuell die Kunden ab. „Ein Bandabriss kann auch Marktanteilsverluste bedeuten“, erklärt Schindewolf. „Schlussendlich sind auch Reputationsschäden nicht auszuschließen.“
Große Lieferkettenunterbrechungen gibt es zuhauf. Im Jahr 2010 führte der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull zum zeitweiligen Totalausfall des Flugverkehrs; wichtige Vorprodukte für die Industrie erreichten nicht ihren Bestimmungsort. Im vergangenen Jahr legten das Erdbeben und der Tsunami in Japan sowie die Überflutungen in Thailand Zulieferer lahm.
„Diese Ereignisse haben die Verwundbarkeit aufgezeigt, die sich durch die stärkere internationale Vernetzung ergibt“, sagt Christoph Willi, Vorstand des Versicherers Zurich, der Policen gegen solche Gefahren anbietet. Große Unternehmen haben ihre Produktionsstandorte und Zulieferer oft über die ganze Welt verstreut, auch in Regionen, die für Naturkatastrophen anfällig sind. „Bei vielen Unternehmen standen wegen des starken Konkurrenzdrucks in den vergangenen Jahren vor allem Kostenvorteile im Fokus“, glaubt Willi. Statt Kernkomponenten auf Lager vorrätig zu haben, setzten Konzerne auf Just-in-time-Lieferungen und beschränkten sich häufig auf einen Zulieferer. Wer große Mengen abnimmt, erzielt schließlich günstigere Preise. „So kann man zwar Geld sparen, lädt sich aber auf der anderen Seite enorme Risiken auf die Bilanz“, sagt Willi.
Genaue LieferkettenanalyseGutes Risikomanagement ist bei den Lieferketten deshalb besonders wichtig. Am Anfang steht immer eine genaue Analyse der Risiken. Willi rät, strategisch wichtige Lieferanten zu identifizieren und ihre Ausfallgefahr genauer unter die Lupe zu nehmen. Auch die Simulation von Lieferkettenunterbrechungen und ein Notfallplan, was im Ernstfall zu tun ist, sind empfehlenswert. Unternehmen sollten auch darüber nachdenken, ob sie sich für besonders wichtige Produkte nicht doch lieber mehrere Lieferanten zulegen. „Man verliert dadurch vielleicht ein bis zwei Prozentpunkte Kostenvorteil im Einkauf, hat aber langfristig Vorteile durch geringere Verluste im Ernstfall“, sagt er.
Große börsennotierte Unternehmen sind beim Risikomanagement meistens gut aufgestellt. „Bei kleineren Unternehmen gibt es dagegen noch Verbesserungspotenzial“, sagt er. So mangelt es oft an der Vernetzung zwischen Risikomanagement, Produktion und Einkauf. Auch Axel Paulsen, Mitglied der Geschäftsleitung des Maklers Willis, sieht Verbesserungsbedarf. Er hat beobachtet, dass sich viele Unternehmen durchaus um die Risikoerfassung kümmern und fleißig Fragebögen an ihre Zulieferer schicken – aber keine Konsequenzen aus den Ergebnissen ziehen. „In vielen Fällen wird nach Papier gefragt, aber bis zum Ende durchdekliniert wird das Ganze nicht“, sagt er. Vorsorge für den Ernstfall zu treffen ist umso wichtiger, weil Versicherer nicht alle Eventualitäten abdecken. Der Ausfall eines Zulieferers lässt sich zwar durch spezielle Klauseln in die Betriebsunterbrechungsversicherung einschließen. Doch eine Entschädigung gibt es nur, wenn es beim Zulieferer einen Sachschaden gegeben hat. „Dass Teile nicht geliefert werden können, weil Vulkanasche den Flugverkehr lahmlegt, ist in herkömmlichen Policen nicht versichert“, erklärt Paulsen.
Auf Druck der Industrie haben eine Reihe von Versicherern, an erster Stelle Zurich und Allianz, inzwischen zwar spezielle Policen entwickelt, die Betriebsunterbrechungen auch ohne Sachschaden abdecken. Auch der Makler Willis bietet solch eine Deckung für Automobilzulieferer an.
Doch die neuen Policen treffen nicht den Geschmack der Industrie. „In der Automobilwirtschaft würde man die Angebote als Showcars bezeichnen, die ihre Markttauglichkeit im Alltag noch nicht bewiesen haben“, sagt Schindewolf von Daimler. Die Versicherungssummen seien für Großkonzerne viel zu gering und die Bedingungen nicht akzeptabel. Die Gesellschaften verlangten, dass die Konzerne ihre Lieferketten im Detail offenlegen. Diese Forderung hält Schindewolf für realitätsfern. „Es scheitert nicht daran, dass die Wirtschaft die Lieferketten nicht offenlegen will, sondern daran, dass es sehr komplex und unpraktikabel wäre, über unzählige Produktionsstufen eine komplette Transparenz in Verträgen darzustellen“, sagt er. „Sobald ich das zum Vertragsbestandteil mache, verliere ich bei jeder Änderung die Deckung.“ Auch Paulsen sieht die hohen Informationsanforderungen der Versicherer als auch die Notwendigkeit der laufenden Aktualisierung als Hürde. „Für große Unternehmen sind die Limite unzureichend, und für kleine Unternehmen sind die Policen auch oft schlichtweg zu teuer“, sagt er. Die Preise betragen zwischen 1,5 und sechs Prozent der Versicherungssumme. So ist es nicht verwunderlich, dass die Deckungen zum Ladenhüter mutieren. Nennenswerte Abschlüsse kann kein Anbieter vorweisen.
Evolution statt Revolution Schindewolf glaubt, dass separate Policen ohnehin nicht der Königsweg sind. Er fände es besser, die bestehenden Policen zu erweitern. „Man könnte sie Stück für Stück evolutionsartig weiterentwickeln und damit auch sachschadenunabhängige Deckungselemente in globale Programme einbauen“, sagt er.
Ob sich Versicherer darauf einlassen, ist fraglich. Schon mit den konventionellen Policen haben viele Anbieter mehr Schäden eingefahren, als ihnen lieb ist. Nach den Überflutungen in Thailand drohte der Rückversicherer Munich Re, Industriekunden zu kündigen, die nicht seinen Forderungen nach mehr Transparenz bei ihren Lieferketten nachkommen. „Man muss unterscheiden zwischen Kundenorientierung und Dummheit“, verteidigte Vorstand Torsten Jeworrek jüngst das Vorgehen. „Das wird oft verwechselt.“ Über Jahre hätten sich die Versicherungsverträge nicht verändert, während die Lieferketten immer vielschichtiger geworden seien. „Wer Versicherungsprodukte will, muss einen gewissen Grad an Transparenz ermöglichen“, so Jeworrek.
Quelle: Financial Times Deutschland
Dieser Beitrag ist nur für Premium-Abonnenten vom Versicherungsmonitor persönlich bestimmt. Das Weiterleiten der Inhalte – auch an Kollegen – ist nicht gestattet. Bitte bedenken Sie: Mit einer von uns nicht autorisierten Weitergabe brechen Sie nicht nur das Gesetz, sondern sehr wahrscheinlich auch Compliance-Vorschriften Ihres Unternehmens.
Diskutieren Sie mit
Kommentare sind unseren Abonnenten vorbehalten. Bitte melden Sie sich an oder erwerben Sie hier ein Abo