Wieder hat eine Versicherung ein Grundsatzurteil in letzter Sekunde mit einemVergleich abgewendet. Das Justizministerium ist genervt. Es prüft eineTransparenzpflicht
Friederike Krieger Anja Krüger
Anja Krüger
und Friederike Krieger, Köln
Im Kölner Friesenviertel erinnern nur noch neoklassizistische Bauten an den einst so stolzen Versicherer Gerling. Hier hat Günter Wallraff undercover recherchiert und sich im Schneidersitz auf dem Schreibtisch des Patriarchen Hans Gerling fotografieren lassen. In seiner Reportage schilderte der Reporter 1973, wie in dem Unternehmen Boten, Pförtner und Telefonistinnen ausgebeutet, schikaniert und wegen Nichtigkeiten gefeuert wurden.
Jahrzehnte später fühlen sich auch ehemalige Führungskräfte vom Unternehmen mies behandelt. Klaus Ebers (Name geändert) und 60 weitere ehemalige Kollegen kämpften vor Gericht um eine Erhöhung ihrer Betriebsrente, die Gerling ihnen mit einem Trick vorenthielt: Das Unternehmen hatte die zuständige Geschäftseinheit durch Umstrukturierungen so geschwächt, dass für eine Erhöhung kein Geld mehr da war. Nach sieben Jahren ist der Fall jetzt zu Ende gegangen – plötzlich und auf eine für alle übrigen Betriebsrentner unbefriedigende Weise: Wenige Tage, bevor das Bundesarbeitsgericht sein Urteil fällen wollte, „ist es zu einem Vergleich gekommen“, sagt Ebers‘ Anwalt Daniel Hartmann aus der Kanzlei Ulrich Weber & Partner. Zu den Einzelheiten wurde Stillschweigen vereinbart.
Ein geschickter Schachzug der Versicherung. Mal wieder. Denn mit dem Vergleich hat der Konzern Talanx, der Gerling inzwischen übernommen hat, ein Grundsatzurteil verhindert. Es hätte Bedeutung für viele Tausend Betriebsrentner gehabt.
Juristen und Verbraucherschützer werfen den Versicherungen schon lange vor, ihre Widersacher durch alle Instanzen zu treiben und Urteile in letzter Sekunde abzuwenden, wenn absehbar ist, dass es teuer wird. Geködert werden die Kläger meist mit einem Vergleichsangebot, das sie nicht ablehnen können. Gewichtige Stimmen fordern deshalb, dass die obersten Gerichte ihre Rechtsmeinung auch dann veröffentlichen sollen, wenn es nicht zum abschließenden Urteil gekommen ist – notfalls sollte man dies sogar in einem Gesetz vorschreiben. Auch im Bundesjustizministerium ist die Urteilsvermeidungsstrategie mittlerweile zum Thema geworden. „Es wird im Haus diskutiert, ob tatsächlich Handlungsbedarf besteht“, sagt eine Sprecherin. Möglicherweise werde das Ministerium in dieser Legislaturperiode noch einen Vorschlag vorlegen.
Das fordert auch der frühere Präsident des Bundesgerichtshofs (BGH) Günter Hirsch, der heute als Versicherungsombudsmann außergerichtlich Streitfälle zwischen Versicherten und Unternehmen schlichtet. „Der Gesetzgeber muss tätig werden“, sagt er. Denn wenn eine Partei unmittelbar vor einem Urteil ihre Revision zurückziehe, verhindere sie Entscheidungen im Interesse der Allgemeinheit. „Es sollten auch Revisionen im Sinne des Rechts möglich sein“.
Zuletzt hatte der britische Versicherer Clerical Medical im Frühjahr mit dieser Strategie Ärger auf sich gezogen. Rund Tausend enttäuschte Anleger hatten wegen überzogener Renditeversprechen und angeblicher Falschberatung geklagt. Das Urteil hätte die für sie und die gesamte Branche wichtige Frage beantwortet, ob Versicherer für Fehler von Vermittlern haften müssen. Doch kurz vor der Entscheidung einigte man sich mit der Klägerin unvermittelt auf einen Vergleich.
„Oft geht es um Fragen, die Millionen von Kunden betreffen“, sagt Hans-Peter Schwintowski, Rechtsprofessor an der Humboldt-Universität Berlin. Auch er fordert, dass die Richter des BGH ihre Meinung als Statement veröffentlichen sollten. Damit würden die Richter einen Beschluss mit offiziellem Charakter fassen, der die von den Versicherern gefürchtete Signalwirkung für die unteren Gerichte hätte. Das strategische Zurückziehen der Revision würde ins Leere laufen. „Der Gesetzgeber könnte die Richter verpflichten, ihre Meinung zu veröffentlichen“, so Schwintowski.
Die Versicherungsunternehmen selbst wiegeln natürlich ab. Man können keine Strategie erkennen, nachteilige Urteile des BGH zu verhindern, heißt es beim Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft. „Unabhängig davon, dass es sich jeweils um Einzelfälle handelt, kennt das deutsche Prozessrecht nun einmal diverse Möglichkeiten, einen Rechtsstreit zu beenden“, sagt ein Sprecher. Die Idee, dass die Gerichte nach einem Vergleich Rechtsfragen bewerten sollen, sei dem deutschen Recht fremd.
Das könnte sich ändern.
Quelle: Financial Times Deutschland
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