Die neuen Eigenkapitalregeln Solvency II belasten vor allem kleineGesellschaften. Und die fürchten, vom Markt gedrängt zu werden
Friederike Krieger
Große Teile der Assekuranz fühlen sich durch die neuen EU-Eigenkapitalregeln Solvency II überfordert. „Dem einen oder anderen ist durchaus ein bisschen mulmig im Magen, was ich gut nachvollziehen kann“, sagt Axel Wehling, Mitglied der Hauptgeschäftsführung des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV): „Wenn man sich den aktuellen Stand von Solvency II anschaut, stellt man fest, dass ein gewisser Grad an Komplexität erreicht ist, der das Ganze schwierig zu handhaben macht.“ Ab 2013 sollen die neuen Regeln für alle Versicherer Europas gelten und die Assekuranz transparenter und krisenfester machen. Die Regeln wurden aufgrund der Aktienkrise 2001 bis 2002 entwickelt und nach der Finanzkrise 2008 noch einmal verschärft. Solvency II soll verhindern, dass Versicherer pleitegehen und für Verpflichtungen gegenüber ihren Kunden nicht mehr aufkommen können.
Die Richtlinie ist in drei Säulen unterteilt: Die erste Säule sieht eine einheitliche Kapitalausstattung für alle europäischen Versicherer vor. Die zweite Säule enthält Regeln fürs interne Risikomanagement. Der dritte Pfeiler beschäftigt sich mit Berichtspflichten an Aufsicht und Öffentlichkeit.
Besonders umstritten ist die Festlegung der nötigen Eigenmittel. Die Versicherer müssen Eigenkapital zum einen für Versicherungsrisiken und zum anderen für Risiken aus Kapitalanlagen vorhalten. Je riskanter ein Versicherungsvertrag oder eine Kapitalanlage, desto höher der Kapitalbedarf. Für einen besonders großen Sturm, der nur alle 200 Jahre auftritt und weite Teile Europas in Mitleidenschaft zieht, müssten die Versicherer etwa 37 Mrd. Euro an zusätzlichem Kapital zurückstellen, hat der Risikomodellierer Perils berechnet.
Die Standardformel zur Berechnung des nötigen Eigenkapitals müsse dringend vereinfacht werden, fordert Wehling vom GDV. Das sei aber noch nicht alles. „Wir müssen über eine Vereinfachung für den gesamten Bereich von Solvency II nachdenken, über alle Säulen hinweg“, sagt er. Vor allem kleine Gesellschaften fürchten, dass der enorme finanzielle und personelle Aufwand der Richtlinie sie überfordern und aus dem Markt drängen könnte.
„Die inzwischen erreichte Detailtiefe ist nicht akzeptabel“, sagt auch Jörg Asmussen, Staatssekretär im Bundesfinanzministerium. Neben der Standardformel bereite auch das Berichtswesen den Gesellschaften Probleme. Die vorgesehene Quartalsberichterstattung können sich viele kleine Gesellschaften weder leisten noch vorstellen. Die hohe Komplexität von Solvency II sei aber nicht nur auf dem Mist von Politik und Aufsehern gewachsen, betont Asmussen: „Man muss ehrlicherweise zugeben, dass die erreichte Komplexität der Standardformel unter anderem auf den Sonderwünschen der großen Versicherungsunternehmen beruht.“
Damit spricht er vielen kleineren Gesellschaften aus der Seele. Sie unterstellen den Schwergewichten der Branche, die Eigenkapitalrichtlinie zu missbrauchen, um die kleinen Konkurrenten vom Markt zu drängen. „Die Allianz sieht Solvency II als Mittel zur Konsolidierung an, dabei sollte das doch ausdrücklich nicht Zweck des Modells sein“, schimpft Michael Baumeister, Chef der kleinen Gartenbau-Versicherung in Wiesbaden.
Der Marktführer und andere Schwergewichte wie Talanx und Munich Re setzen bei der Beurteilung der Risiken ihres Geschäfts nicht auf das Standardmodell, sondern entwickeln meist ein eigenes, sogenanntes internes Modell. Das spart Eigenkapital, weil ein selbst entworfenes Konzept die Risiken des eigenen Geschäfts besser abbildet, hoffen die Großkonzerne. „Wer das Standardrisikomodell verwendet, dürfte zehn bis 20 Prozent höhere Eigenkapitalanforderungen haben als ein Unternehmen mit einem internen Modell“, orakelte der damalige Allianz-Finanzvorstand Helmut Perlet schon im September 2005. Ein internes Modell zu entwerfen ist für kleine Gesellschaften aber sehr aufwendig.
Die BaFin hat den Versicherern Hilfe angeboten, hat aber selbst noch Probleme, die nötigen Fachkräfte für die Zertifizierung interner Modelle zu rekrutieren. Das Gremium der europäischen Versicherungsaufseher CEIOPS hat den kleinen Gesellschaften Hilfe in Aussicht gestellt. Nach der Auswertung des derzeit laufenden Praxistests von Solvency II – auch QIS 5 genannt – werde man prüfen, ob die Standardformel für die Berechnung des Solvenzkapitals nicht vereinfacht werden kann, sagt Gabriel Bernardino, der CEIOPS vorsteht.
Ein Aspekt der neuen EU-Eigenkapitalrichtlinien, der kleinen wie großen Versicherern Kopfzerbrechen bereitet, ist die Zukunft der klassischen Lebensversicherung unter Solvency II. Die Gesellschaften haben Millionen von Kunden Zinsgarantien von durchschnittlich 3,4 Prozent gegeben, bekommen aber selbst kaum mehr als zwei Prozent Zinsen, wenn sie heute Geld in deutsche Staatsanleihen anlegen. Aktien versprechen eine höhere Rendite – werden aber wegen der aktuellen Vorgaben zur Unterlegung von Risiken aus Kapitalanlagen mit Eigenmitteln zu einem teuren Unterfangen.
Während die Versicherer nach Solvency II für Staatsanleihen zunächst kein Eigenkapital vorhalten müssen – selbst wenn sie von Wackelkandidaten wie Griechenland, Spanien oder Irland stammen – müssen sie für Aktien aus der EU oder dem OECD-Raum zusätzlich zum Investmentbetrag 39 Prozent an Eigenmitteln vorhalten, bei Werten aus Schwellenländern sogar bis zu 49 Prozent. Wenn sich die Aktienmärkte in den Vorjahren besonders positiv entwickelt haben, können die Anforderungen zudem um bis zu zehn Prozent erhöht werden, weil dann die Wahrscheinlichkeit von Kursverlusten hoch ist.
Auch Unternehmensanleihen sind nicht gut weggekommen, was die Eigenkapitalbelastung angeht. Für Firmenanleihen mit langen Laufzeiten müssen die Gesellschaften fast so viel Eigenmittel vorhalten wie für Aktien. Die Versicherer haben allein bei Banken 350 Mrd. Euro in Anleihen und Darlehen investiert. Dieser Posten macht rund ein Viertel der Kapitalanlagen aus. Solvency II in seiner jetzigen Form behindere die Versicherer auch bei Hybridkapitaltransaktionen, sagt Andreas Kalusche, Versicherungsexperte von JP Morgan. „Nachrangige Anleihen gelten im gewissen Rahmen aufsichtsrechtlich als Eigenkapitalersatz, werden bei den Versicherern auf der Anlageseite aber de facto wie Aktien mit Kapital unterlegt“, kritisiert er.
Hauptkritikpunkt der Lebensversicherer ist aber die sogenannte Zinsstrukturkurve, die genutzt wird, um die nötigen Reserven zu berechnen. „Nach dem jetzigen Stand sollen wir bei lang laufenden Risiken mit Zinsannahmen rechnen, die unrealistisch sind“, sagt Jan Martin Wicke, Vorstand der Wüstenrot & Württembergischen. Die Annahmen für die Zinsen in 20 oder 50 Jahren beruhten auf Preisen an Märkten, die nicht über ein angemessenes Volumen verfügen. Die Werte seien daher recht willkürlich gewählt und führten dazu, dass Versicherer mehr Reserven vorhalten müssen als Industriebetriebe, die betriebliche Altersvorsorge anbieten.
Quelle: Financial Times Deutschland
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