Versicherungen sind auf Naturwissenschaftler, Ärzte und sogar Kunsthistoriker angewiesen. Sie schätzen das zu tragende Risiko ab

Einmal im Jahr kehrt die promovierte Biochemikerin Manuela Zweimüller zu einer Tagung für Studenten an ihre ehemalige Universität nach Tübingen zurück. Bei der Karriereplanung nicht nur Labore und Forschungseinrichtungen ins Auge zu fassen – das predigt Zweimüller dort dem wissenschaftlichen Nachwuchs. Sie selbst hat solche Scheuklappen abgelegt und arbeitet seit Jahren bei einem Versicherer. Viele angehende Biochemiker staunen darüber. „Ich muss immer erklären, dass Naturwissenschaftler bei Versicherern nicht von Haustür zu Haustür laufen und Lebensversicherungen verkaufen müssen“, erzählt die 42-Jährige.

Manuela Zweimüller ist Risk Consultant beim weltgrößten Rückversicherer Münchener Rück. Dessen Kunden sind Versicherer auf der ganzen Welt, die Teile ihrer übernommenen Risiken an das Unternehmen weitergeben. Für dieses Geschäft braucht die Münchener Rück nicht nur Ökonomen und Mathematiker. Auch Experten aus anderen Feldern helfen Risiken zu untersuchen und einzuschätzen.

Unter den 3000 Mitarbeitern in der Münchner Konzernzentrale gibt es etwa 100 fachfremde Experten, also Akademiker ohne einschlägige ökonomische oder mathematische Ausbildung. Darunter sind Ingenieure und Naturwissenschaftler aus 80 Fachrichtungen, Meteorologen, Geologen, Geografen, Ärzte oder Kapitäne. Geologen untersuchen zum Beispiel die Erdbebenwahrscheinlichkeit in bestimmten Gebieten. Meteorologen schätzen das Risiko von Stürmen ein. Und Ingenieure entwickeln Brandschutzmaßnahmen.

Die Biochemikerin Zweimüller arbeitet in der Abteilung Haftpflicht für internationale Industriekunden und ist für die Bereiche Pharma, Biotechnologie und Nahrungsmittel zuständig. „Ich bereite naturwissenschaftlich-technisches Wissen für Juristen und Betriebswirte auf“, erklärt sie. Dazu muss sie die wissenschaftliche Entwicklung in ihrem Bereich verfolgen und Studien auf Schlüssigkeit prüfen. Die Münchener Rück stellt so sicher, dass der wissenschaftliche Fortschritt auch in die Verhandlungen mit Kunden fließt und in die Verträge eingeht. Stellen Wissenschaftler zum Beispiel fest, dass Medikamente bislang unbekannte Nebenwirkungen haben, hat das Konsequenzen für die Verträge mit Erstversicherern, die Haftpflichtdeckungen für Pharmaunternehmen übernehmen.

In die Versicherungswirtschaft kam Zweimüller zufällig. Nach dem Studium in Tübingen arbeitete sie am Max-Planck-Institut in München-Martinsried. Als die Allianz-Sachversicherung 1996 Wissenschaftler für ihr Risikomanagement suchte, wandte sie sich an das Institut. Die Biochemikerin ergriff die Chance und hat den Einstieg in die Branche nie bereut. „Mein Beruf ist spannend, ich bin mit Begeisterung dabei“, sagt sie. Vor drei Jahren wechselte sie zur Münchener Rück.

„Der Bedarf an Naturwissenschaftlern bei Versicherern steigt“, sagt Zweimüller. Denn das Risikomanagement werde immer wichtiger. Die Quereinsteigerin rät Studierenden, die sich nicht auf glückliche Zufälle verlassen wollen, schon während des Studiums als Werkstudent oder Praktikant die Branche kennen zu lernen.

Nicht nur Naturwissenschaftler finden bei Versicherern Anstellung. So arbeitet zum Beispiel die Kunsthistorikerin Kirsten Muhle bei Axa Art, dem Kunstversicherer des Axa-Konzerns. Weltweit beschäftigt der Konzern 50 Kunsthistoriker. Muhle hat während des Studiums in Galerien und nach der Promotion in einem Auktionshaus gearbeitet. „Ich wollte in die Versicherungsbranche“, sagt sie. Vor drei Jahren schickte sie eine Blindbewerbung an ihren heutigen Arbeitgeber.

Zu Muhles Kunden zählen Museen und Galerien, die Ausstellungen versichern wollen. „Dabei geht es weniger um die Feststellung des Versicherungsbedarfs“, erklärt sie. Denn der Wert einer Ausstellung wurde meist in vorliegenden Expertisen ermittelt. Muhle muss sich vor allem um die Sicherheit der Kunstobjekte kümmern. Die 37-Jährige betreute zum Beispiel die große Van-Gogh-Schau, die im vergangenen Jahr in Bremen gezeigt wurde. Dort sorgte sie dafür, dass jedes einzelne Bild mit einer Alarmanlage gesichert war.

„Unsere Kunden sind keine Leute, die auf dem Flohmarkt Bilder kaufen“, sagt Muhle. Wenn ein privater Sammler einen Kunstgegenstand versichern will, prüft sie das Objekt, bestimmt seinen Wert und legt so den Versicherungsbedarf fest. Bei ihren Hausbesuchen klärt Muhle auch die Sicherheitslage. Falls nötig muss der Sammler an Türen und Fenstern nachrüsten und eine Alarmanlage einbauen. Schließlich kann ein Schaden den Versicherer teuer zu stehen kommen. Bevor Muhle zu Axa Art kam, kannte sie sich mit Alarmanlagen und Einbruchsicherung so wenig aus wie die meisten Kunsthistoriker. Sie lernte bei Fortbildungen und bei der täglichen Arbeit.

Konsequentes Risikomanagement zahlt sich für die Versicherer aus, Schäden sind selten. Doch manche Gefahren kann auch die beste Risikoberaterin nicht vorhersehen: Als vor einigen Jahren in Belgien ein Haus abgerissen wurde, durchschlug die Abrissbirne die Wand des Nachbargebäudes – und ein Bild des italienischen Malers Giorgio de Chirico mit einem Marktwert von 500 000 Euro.

Zitat:

„Der Bedarf an Naturwissenschaftlern bei Versicherern steigt“ – Manuela Zweimüller, Münchener Rück

Bild(er):

Auch Versicherer müssen in vielen Fällen einen Blick auf die Wetterkarte werfen. Das Risiko verheerender Stürme bestimmt die Verträge mit – Mauritius/J.Siverberg

Anja Krüger

Quelle: Financial Times Deutschland

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