Der Zusammenschluss zur AOK Rheinland/Hamburg gilt Politikern als Vorbild. Doch eine größere Fusionswelle wird es erst geben, wenn Kassen ihre Marktmacht ausspielen können Ilse Schlingensiepen
Hoher Besuch war zugegen, als sich am 1. Juli 2006 der Verwaltungsrat der fusionierten AOK Rheinland/Hamburg konstituierte. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt hatte sich extra ins niederrheinische Grevenbroich begeben. „Mit dieser Fusion haben die AOK Rheinland und die AOK Hamburg ein Stück Sozialrechtsgeschichte geschrieben“, verkündete die Ministerin. „Denn erstmals haben sich zwei Ortskrankenkassen über Landesgrenzen hinweg zusammengeschlossen.“
Mit ihrem Zusammenschluss, dessen Planung mehr als drei Jahre beanspruchte, haben die beiden AOKen genau das praktiziert, was die Politik dem gesamten AOK-System am liebsten zwangsverordnen würde. Um das Problem der verschuldeten Kassen in den Stadtstaaten in den Griff zu bekommen, müssten sie mit den besser gestellten Schwesterkassen in den Flächenstaaten zusammengehen, fordert Ulla Schmidts Staatssekretär Klaus Theo Schröder.
Diesen Ball nimmt Wilfried Jacobs, Vorstandsvorsitzender der neuen AOK Rheinland/Hamburg, gern auf. „Die Solidarität im AOK-System darf nicht an Landesgrenzen enden“, sagt Jacobs, der seit 1996 an der Spitze der AOK Rheinland steht. Mit der Fusion soll die überschuldete Hamburger Kasse wieder in sicheres Fahrwasser gebracht werden. Sie war durch ihren Beitragssatz von 14,0 Prozent unattraktiv geworden. Seit Juli teilen sich die Hamburger mit den Rheinländern den Satz von 13,4 Prozent. „Damit können wir in Hamburg wieder neue Teilmärkte erschließen“, hofft Jacobs.
Das AOK-System hat der AOK Hamburg schon länger finanziell geholfen. In den internen Finanzausgleich für die Kassen in Hamburg und Berlin hat die AOK Rheinland jährlich 20 Mio. Euro gezahlt, berichtet Jacobs. Statt Finanzlöcher zu stopfen, nimmt er das Geld jetzt lieber selbst in die Hand. „Jetzt haben wir die Möglichkeit, mit unseren Methoden und Mitteln zu versuchen, die AOK Hamburg wieder flott zu machen.“ Das ist eine ökonomische Herausforderung. Diese müssen die Rheinländer aber nicht allein stemmen, die Unterstützung durch die AOK-Familie läuft noch zwei, drei Jahre weiter. Auch die Verbindlichkeiten der Hamburger werden von allen getragen.
Probleme bereite das Zusammengehen der beiden Kassen nicht, sagt der Vorstandschef. „Die Ablaufsysteme sind relativ genormt.“ Auch die Entfernung zwischen Hamburg und dem Rheinland stelle wegen der technischen Möglichkeiten kein Problem dar. Die Herausforderung liege darin, eine einheitliche Unternehmenspolitik zu gestalten. „Eine Kasse, die wegen ihrer Finanzsituation jeden Cent umdrehen musste, hat eine andere Orientierung als eine Kasse mit einem sehr marktorientierten und wettbewerbsfähigen Beitragssatz.“ Arbeitsplätze werde die Fusion nicht kosten, betont er.
Größe allein zählt nicht
Bei Kassenfusionen sei es nicht sinnvoll, auf die Größe zu schielen, glaubt Jacobs. „Nur größer werden ist kein Ziel. Wegen der Größe besser sein zu können, das ist das Ziel.“ Im Vergleich zu den 1,8 Millionen Mitgliedern der AOK Rheinland machen sich die 223 000 der AOK Hamburg ohnehin eher bescheiden aus.
Einen deutlichen Wachstumsschub bringt der Kasse aber der nächste Schritt: die für 2008 geplante Fusion mit der AOK Westfalen-Lippe. Die NRW-AOK wäre dann für mehr als fünf Millionen Versicherte zuständig und damit die größte AOK und die drittgrößte Kasse bundesweit nach der Barmer und der Deutschen Angestellten-Krankenkasse.
Erst wenn Kassen mehr Möglichkeiten bekommen, direkt mit Ärzten, Krankenhäusern oder Pharmafirmen Verträge zu schließen, kommt die Größe ins Spiel, ist Jacobs überzeugt. „Verhandelt man über Preise und Qualitätsinhalte, dann sieht es schon anders aus, wenn eine Kasse in einer Arztpraxis 30 bis 40 Prozent der Patienten stellt.“ Voraussetzung sei aber, dass die Politik den Kassen endlich mehr Freiräume gebe.
Als große Kasse sei man auch attraktiver als Kooperationspartner für andere Kassen, sagt der AOK-Chef. An den immer wieder kolportierten Plänen für eine Fusion der NRW-AOK mit der Barmer sei aber nichts dran. „Es gibt keine Fusionsgespräche, und es wird keine geben.“
Von der NRW-AOK werden weitere Fusionen im AOK-System ausgehen, mit dem langfristigen Ziel einer Bundes-AOK, erwarten Branchenkenner. Jacobs ist zwar ein Befürworter einer solchen Großkasse, hält sie aber nicht für zwingend. „Sinnvolle Fusionsprozesse in den Regionen sind erstrebenswert. Die Bundes-AOK muss dabei aber nicht unbedingt das Endziel sein.“
Nach dem Zusammenschluss der Rheinländer und der Hamburger gibt es bundesweit noch 16 AOKen. „Man kann sich vorstellen, dass es weitere Fusionen geben wird“, sagt der Sprecher des AOK-Bundesverbands Udo Barske. Notwendig seien aber bessere Rahmenbedingungen. „Es ist ein Problem, dass Größe im Gesundheitswesen nicht in Einkaufsmacht umgesetzt werden kann.“ Die Politik müsse endlich mehr Vertragsfreiheit und mehr Wettbewerb zulassen anstatt den Kassensektor immer weiter zu regulieren. „Die Vorteile für die Versicherten können sich erst entfalten, wenn die Marktmacht endlich Gewicht bekommt.“
Von einer zunehmenden Bedeutung der Kassengröße geht Robert Paquet aus, Leiter des Berliner Büros des Bundesverbands der Betriebskrankenkassen (BKK). „Die Herausforderungen der Zukunft erfordern größere Einheiten“, sagt er. So sollten Kassen in der Lage sein, Spezialisten für Versorgungsverträge, Ärzte und Apotheker zu beschäftigen. „Allerdings ist nicht einfach festzustellen, wo die optimale Betriebsgröße einer Krankenkasse liegt und was auch mit Kooperationen erreicht werden kann.“
Fusion bietet neue Perspektiven
Paquet weiß, was Fusionieren bedeutet. Im Jahr 1991 gab es noch 721 Betriebskrankenkassen, zurzeit sind es knapp 200. Oft habe dabei ein starker Partner einem schwachen geholfen, so Paquet. „Die überwiegende Zahl der Kassenfusionen erfolgt nicht ganz freiwillig.“ Auch beim Zusammengehen der AOK Rheinland mit der AOK Hamburg habe die Entschuldung der Hamburger im Vordergrund gestanden. „Eine Effizienzsteigerung ist dabei nicht zu sehen“, sagt Paquet. Gerade bei räumlich getrennt liegenden Kassen sei sie auch schwer zu erreichen. „Was diese Fusion für das AOK-System interessant macht, ist die Perspektive einer Bundes-AOK“, glaubt der BKK-Experte. „Da spielt die AOK Rheinland eine Vorreiterrolle.“ Echte Synergien werde erst die Bildung der NRW-AOK bringen.
Gernot Kiefer vom Vorstand des Bundesverbands der Innungskrankenkassen (IKK) hält es für „überzogen“, die Fusion zur AOK Rheinland/Hamburg als sozialrechtsgeschichtlich bedeutsam zu bezeichnen. „Das ist kein Novum“, sagt er. Solche Lösungen gebe es schon länger, auch länderübergreifende Fusionen seien nichts Neues. Die IKK Westfalen hat mit der verschuldeten IKK Bayern fusioniert, die IKK Brandenburg mit der IKK Berlin und die IKK Schleswig-Holstein mit der IKK Mecklenburg-Vorpommern.
„Eine Fusion ist kein Wert an sich“, sagt Kiefer. Man müsse immer prüfen, ob sich dadurch die Rahmenbedingungen für die Kassen verbessern. „Was dabei sinnvoll ist, wird sich am Markt regeln, dafür braucht man keine staatlichen Interventionen.“ Wie Ulla Schmidt auf das Ziel von 50 Kassen komme, sei nicht nachzuvollziehen. „Es gibt keine ideale Kassengröße.“
Von Fusionen, die allein dazu dienen, die kurzfristige Finanzsituation einer Kasse zu verbessern, hält der Essener Gesundheitsökonom Jürgen Wasem ebenso wenig wie von der Vorgabe einer bestimmten Anzahl von Krankenkassen. „Es ist schön, wenn Ulla Schmidt weiß, wie die Kassenstruktur von morgen aussieht“, spottet er.
Die Politik agiert nach Wasems Einschätzung in dieser Frage ohnehin in die falsche Richtung. „Ich bin skeptisch, ob es überhaupt Sinn macht, dass die Politik in Sachen Kassenfusionen so einen Druck aufbaut.“ Wenn sie mit dem Wettbewerb im Gesundheitswesen endlich ernst mache, werde sich schnell herauskristallisieren, welche Größe und Professionalität die Kassen brauchen, um bestehen zu können. „Dann werden sich von selbst Fusionen oder betriebswirtschaftlich sinnvolle Kooperationen entwickeln.“ Gebe es den Wettbewerb wirklich, dann sei an einer ganz anderen Stelle der Gesetzgeber gefragt, sagt der Ökonom. „Dann brauchen wir eine Fusionskontrolle, um zu verhindern, dass Kassen in den einzelnen Regionen marktbeherrschende Stellungen aufbauen.“
Quelle: Financial Times Deutschland
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