Kassen und Private wollen mit verbesserter Versorgung die Kosten senken. DieZahl der Intensivpflegefälle steigt
Ilse Schlingensiepen
Ein 45-jähriger Mann verunglückt im September 2009 schwer. Er erleidet ein Schädel-Hirn-Trauma und muss reanimiert werden. Seitdem ist der Mann ein Pflegefall, wird 18 Stunden am Tag künstlich beatmet und über eine Magensonde künstlich ernährt.
Nach der Akutversorgung im Krankenhaus suchen Mitarbeiter der Halleschen Krankenversicherung nach einer passenden Unterbringungsmöglichkeit. Die Angehörigen wollten nicht, dass der Mittvierziger in ein Pflegeheim kommt.
„Wir haben eine Wohngruppe in einer Einrichtung gefunden, in der jüngere behinderte Menschen betreut werden“, berichtet Wiltrud Pekarek, Vorstand des privaten Krankenversicherers. Jetzt kümmert sich ein spezialisiertes Pflegeteam um den Mann. Die gezielte Versorgung kommt nicht nur dem Patienten zugute, sondern senkt auch die Kosten. Statt 17 000 Euro pro Monat im Pflegeheim kostet die Betreuung in der Wohngruppe 3300 Euro. „Das ist eine wirkliche Win-win-Situation, wie wir sie nicht in jedem Fall haben“, so Pekarek.
Die Hallesche setzt seit 2003 bei der Betreuung von sogenannten Hochkostenfällen auf ein gezieltes Fallmanagement. „Dabei geht es um Versicherte mit hochkomplexen Krankheitsbildern oder schweren Unfallfolgen“, sagt Pekarek. Kern des Fallmanagements ist es, für die Patienten die individuell beste Therapie zu ermitteln und die geeigneten Behandler zu finden. Die Mitarbeiter sorgen dafür, dass die Übergänge zwischen einzelnen Behandlungsstufen reibungslos klappen und keine wertvolle Zeit verloren geht.
2009 haben die Spezialisten rund 700 Versicherte individuell betreut. „Das ist aufwendig, aber es lohnt sich“, betont sie.
Die individuelle Versorgung von Hochkostenfällen ist nicht nur für die Hallesche und andere private Krankenversicherer interessant. „Das ist ein Thema, mit dem sich alle gesetzlichen Krankenkassen beschäftigen müssen“, sagt Karl Liese, Geschäftsführer der Beratungsfirma B-Lue Management Consulting. „Sie können so Kosten sparen und gleichzeitig die Versorgung verbessern.“
Die neuen Rahmenbedingungen für die Kassen haben den Handlungsdruck erhöht. Die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds reichen für besonders teure Versicherte nicht. Der Risikopool, der bis Ende 2008 Ausgaben für solche Fälle abfederte, wurde abgeschafft. „Jetzt schlagen sie bei der einzelnen Kasse voll durch“, sagt Liese. Gerade kleine Kassen müssen dann eher einen Zusatzbeitrag von ihren Versicherten nehmen und verschlechtern ihre Position im Wettbewerb.
Das Hochkostenfallmanagement eigne sich gut für Versicherte mit schweren chronischen Erkrankungen und für Patienten, die eine Intensivpflege benötigen, etwa Unfallopfer mit Schädel-Hirn-Trauma oder Frühgeborene, sagt Mediziner Liese.
Die Intensivpflege kostet nach seinen Angaben im Schnitt 130 000 bis 160 000 Euro im Jahr. „Wenn eine Kasse 200 oder mehr solcher Fälle hat, macht es Sinn, ein individuelles Fallmanagement aufzubauen.“
Aufgrund des medizinischen Fortschritts nehme die Zahl der Intensivpflegefälle pro Jahr um 15 Prozent zu – häufig sind das Patienten, die vor einigen Jahren ihre Krankheit oder ihren Unfall nicht überlebt hätten.
„Wir sehen eine zunehmende Fallzahl“, bestätigt Karlheinz Löw, der für diesen Bereich zuständige Hauptabteilungsleiter bei der AOK Hessen. Die Kasse hat 2006 mit dem Aufbau eines Hochkostenfallmanagements begonnen. Rund 200 der 1,5 Millionen Versicherten erhalten die Spezialbetreuung. „Dabei geht es um Qualitätsverbesserungen in der Versorgung und gleichzeitig um mehrere Millionen Euro“, sagt Löw. Allein bei einem Versicherten mit einer Immunerkrankung belaufen sich die Ausgaben auf bis zu 1,9 Mio. Euro im Jahr.
Drei speziell geschulte Mitarbeiter der AOK Hessen sind ausschließlich mit der Betreuung der Hochkostenfälle befasst. Sie beraten die Patienten und ihre Angehörigen, unterstützen sie bei der Auswahl der geeigneten Versorgungseinrichtungen, organisieren die Versorgung mit Arznei- und Hilfsmitteln und besprechen die notwendigen Maßnahmen mit Pflegern und Ärzten vor Ort. Die AOK hat Rahmenverträge mit Kliniken, Ärzten und Pflegediensten abgeschlossen. „Wenn es die individuelle Situation erfordert, finden wir auch einzelvertragliche Lösungen“, sagt Löw. Die Versicherten erwarteten von ihrer Kasse zunehmend ein solches Engagement.
Die Innungskrankenkasse Vereinigte IKK beginnt gerade, ein solches Spezialangebot aufzubauen. Angesichts des hohen wirtschaftlichen Drucks gehe es für Kassen darum, auf vernünftige Weise Kosten einzusparen, ohne den Versicherten Leistungen vorzuenthalten, sagt Heinz Giesen, Leiter der Vertragsabteilung. „Beim Hochkostenfallmanagement sehen wir die größten Chancen.“ Entscheidend sei dabei die Optimierung der Prozesse – sowohl bei der Patientenversorgung als auch bei der Kasse selbst. Jede Krankenkasse müsse prüfen, welche spezifischen Instrumente für sie Sinn machen, sagt Giesen. „Das ist ein Thema, für das es kein Patentrezept gibt.“
Quelle: Financial Times Deutschland
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