Auf Erdbeben und Sturmschäden haben Industrie und Versicherer sich inzwischenganz gut eingestellt. Sorge machen ihnen aber Risiken, von denen niemand weiß,wie sie genau aussehen. Sicher ist nur: Es gibt sie
Herbert Fromme
Autofarben folgen Moden, die den Wellen der Damenmode wenig nachstehen. Seit zwei, drei Jahren sind schokobraune Töne beliebt. Genau das bereitete einigen Herstellern 2011 Probleme. Denn ein Produzent der Farbpigmente, die für die Erzeugung des Farbtons nötig sind, saß in Japan – und war nach Erdbeben und Nuklearunfall wochenlang nicht lieferfähig. So mancher Wagen, der in Schokobraun bestellt worden war, kam verspätet zum Kunden.
Die Katastrophe in Japan hatte weit reichende Auswirkungen. Autohersteller und ihre Kunden spürten sie am deutlichsten. „Im Frühjahr 2011 hatte ich einen neuen Firmenwagen bestellt, der im Frühsommer geliefert werden sollte“, berichtet Jurand Honisch. Er ist Versicherungschef beim Medienriesen Bertelsmann, der auch die Mehrheit an Gruner + Jahr hält, dem Verlag der Financial Times Deutschland. Honisch bestellte einen Wagen mit Rückfahrkamera. Aber ein einzelnes Bauteil der Kamera stammte von einem japanischen Hersteller, der nicht produzieren konnte. „Am Ende wurde der Wagen zwei Monate später ausgeliefert.“
Honisch nennt das Beispiel, um bei Versicherern für mehr Flexibilität und neue Deckungsformen bei Betriebsunterbrechungspolicen zu werben. Hier fühlt sich die Industrie allein gelassen. „Schäden aus der Betriebsunterbrechung haben einen größeren Einfluss auf die Wertschöpfungskette als reine Sachschäden“, sagt Honisch, der auch Vorstandsmitglied des Deutschen Versicherungs-Schutzverbandes ist, der Interessenvertretung der deutschen Industrie in Versicherungsfragen.
Aber trotz der hohen Belastungen aus den Unglücken in Japan sind sich die Experten einig: Dieses Risiko hatten die Risikomanager in den großen Industriekonzernen und bei Versicherern und Rückversicherern eigentlich auf dem Schirm. Sie sind es gewohnt, mit Hurrikans, Stürmen und Erdbeben in den gefährdeten Regionen zu rechnen.
Anders war es mit der Überflutung, die 2011 Thailand traf. Mit ihr hatten viele Verantwortliche nicht gerechnet und wurden entsprechend von den Lieferausfällen wegen der geschlossenen Zulieferer kalt erwischt. Der Grund: Weder die Assekuranz noch die Industrie hatten mitbekommen, in welch hohem Ausmaß japanische Konzerne ihre Produktion aus dem Heimatland nach Thailand verlagert hatten. Die Frühwarnsysteme hatten versagt. „Aufgrund fehlender Erfahrungen haben wir in den vergangenen Jahren unterschätzt, welche Ausmaße eine solche Hochwasserkatastrophe annehmen kann“, sagt Manuel Bauer, Mitglied im Vorstand der Allianz SE und verantwortlich für Asien und Osteuropa. „Wir werden uns die Risiken künftig genauer anschauen müssen und etwa Werksbesichtigungen unter diesem Gesichtspunkt einführen.“
Die Versicherer verstehen die offensichtlichen Megarisiken zunehmend besser. Dazu gehört auch die Schadenhöhe, die im schlimmsten Fall auf sie zukommt. Die Branche kalkuliert mit rund 100 Mrd. Dollar aus einem Hurrikan-Großschaden in den USA, mit einer ähnlichen Summe bei einem Erdbeben, das Tokio trifft, und mit rund 40 Mrd. Dollar für Sturmschäden in Europa.
Die größeren Gefahren lauern aber woanders, sagt Joachim Oechslin, Chief Risk Officer der Munich Re bei einem Fachkongress des Rückversicherungsmaklers Aon Benfield. „Wir haben diese Risiken verhältnismäßig gut verstanden“, charakterisiert er Hurrikans und Erbeben. „Sie sorgen nicht für schlaflose Nächte bei mir.“ Viel gefährlicher seien Ereignisse, die die Menschheit kennt, die aber lange nicht mehr eingetreten sind. Der frühere US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hat für sie den Begriff der „known unknowns“ geprägt, der bekannten Unbekannten.
Zu dieser Kategorie zählt Oechslin die globalen Pandemien. „Wir haben uns damit auseinandergesetzt“, sagt er. „Aber es ist aus der Perspektive eines Risikomanagers deutlich schwieriger, die Kosten einer Pandemie abzuschätzen als die eines Hurrikans.“ Denn die Welt hat sich seit der letzten großen Pandemie 1918 deutlich verändert – es gab medizinischen und hygienischen Fortschritt, umgekehrt ist die Mobilität der Erdbevölkerung höher.
Am meisten Probleme bereitet Oechslin eine weitere Kategorie, die er „unknown unknowns“ nennt, die unbekannten Unbekannten. „Das sind Ereignisse, an die wir in dieser Form nie gedacht haben.“ Dazu gehört der Terrorüberfall auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001. „Vielleicht haben manche an dieses Risiko gedacht, aber es wurde als so unwahrscheinlich angenommen, dass man dafür keine wirklichen Vorbereitungen getroffen hat.“
Hier liegt das eigentliche Problem: Solche Verkettungen von Ereignissen sind in der Tat sehr unwahrscheinlich. „Aber es gibt so viele mögliche Verkettungen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass uns irgendwann zu Lebzeiten noch eine ereilt, deutlich höher ist, als man das im Allgemeinen erwarten würde.“ Wenn es dann zu einem völlig unerwarteten Ereignis kommt, werden viele sagen, das sei ja völlig offensichtlich gewesen. „Natürlich ist es offensichtlich, aber es gibt 10 000 andere Ereignisse, die auch hätten geschehen können,“ sagt Oechslin.
Die Reihe der völlig überraschenden Ereignisse ist lang. Der Angriff vom 11. September, die Aschewolke des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull, die den Flugverkehr zum Erliegen brachte, die Volksaufstände in Nordafrika, die Krise des Euro – Ereignisse mit weit reichenden Konsequenzen für Unternehmen, die aber kaum ein Risikomanager in seinen Modellen eingebaut hatte.
Die Versicherer versuchen inzwischen, solche Ereignisketten besser zu verstehen und Datenbanken über sie anzulegen. Nur so können sie verhindern, dass sie von ein und derselben Katastrophe plötzlich aus ganz verschiedenen Richtungen getroffen werden. Und nur mit solchen Werkzeugen, so glauben die Versicherer, können sie der Industrie den geforderten Schutz für Betriebsunterbrechungsschäden geben.
An der Aufgabe, die Risiken der Menschheit und ihrer Wirtschaft besser zu verstehen, arbeiten auch die so genannten „Risikomodellierer“. Die Spezialfirmen bewerten einerseits ganz bodenständig, was ein Sturm in einer bestimmten Windstärke einen Versicherer in einer Region kosten könnte. Gleichzeitig denken sie auch über Schäden nach, die eine von Terroristen gezündete kleine Atombombe in Manhattan, der Weltmetropole der Finanzwirtschaft, auslösen würde. Rund 800 Mrd. Dollar könnte das die Assekuranz kosten, so die Experten der US-Firma Risk Management Solutions schon im Jahr 2006. Seither haben sich ihre Modelle weiter verfeinert.
Jahrhundertelang lebten die Versicherer vor allem von Erfahrungswerten: Wie oft kam es in der Vergangenheit zu einem Sturm der Stärke sieben, wie hoch sind die versicherten Werte? So ließ sich bequem eine Versicherungsprämie ausrechnen.
Doch das reicht heute nicht mehr. Spätestens seit dem Hurrikan Andrew, der im August 1992 Schäden von 17 Mrd. Dollar anrichtete, taugen die rein historischen Betrachtungen nicht mehr. Ein solcher Megaschaden war in der Kalkulation nicht vorgesehen. Auch 20 Jahre später könne man noch nicht zufrieden sein, sagt Munich Re-Manager Oechslin. „Unsere Branche hat noch kein ausreichendes Verständnis von diesem Universum von möglichen Ereignissen.“ Doch genau daran arbeiten die Versicherer intensiv – aus ureigenstem Interesse.
Quelle: Financial Times Deutschland
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