Sozialreformen sorgen für große Erwartungen in der Finanzwirtschaft · Aktuelle Politik verunsichert die Branche
Von Herbert Fromme und Anja Krüger Eigentlich sollte 2004 ein Rekordjahr für die Versicherungswirtschaft werden. Das Ende der Steuerfreiheit auf Erträge aus Lebensversicherungen ab Januar 2005 werde in der zweiten Jahreshälfte zu einem Boom im Neugeschäft führen, so das Kalkül. Der Run auf die nur noch 2004 angebotenen Policen mit voller Steuerfreiheit könnte einen Zuwachs von 10 bis 20 Prozent bei den Prämieneinnahmen bringen, erwartete noch im Juli Michael Scharr, Vorstand bei der SV Sparkassenversicherung. Wie hochgesteckt die Erwartungen der Branche waren, zeigt auch der gewaltige Werbeaufwand. Allein die Allianz schickte ihren Kunden zwei Millionen Briefe, in Anzeigen, Fernseh- und Radiospots werben die Versicherer mit den Steuervorteilen.
Das Ergebnis ist bisher enttäuschend. „Erst jetzt kommt Bewegung in den Verkauf, und das sehr langsam“, sagt das Vorstandsmitglied eines mittelgroßen Versicherers. Die Steuerbotschaft wirke zwar – aber es gebe gegenläufige Tendenzen. „Dazu gehört Hartz IV, aber auch die anstehende Gesundheitsreform“, sagte er.
Die Einkommen werden knapper, die Versicherer konkurrieren direkt mit dem Konsum. Das weiß auch AWD-Chef Carsten Maschmeyer. „Da heißt es TUI oder AWD, neues Auto oder Altersvorsorge.“ Ob sich aber mit Konsumverzichtspredigten, wie sie asketische Calvinisten nicht besser halten könnten, Verkaufserfolge erzielen lassen, muss die Assekuranz erst noch nachweisen.
Ein Anziehen des Neugeschäfts stellt jedenfalls die AMB Generali fest, die Nummer drei im deutschen Lebensversicherungsmarkt. „Das ist aber keineswegs vergleichbar mit 1999“, betonte Walter Thießen, Konzernchef bei der AMB Generali. Damals hatte Finanzminister Hans Eichel schon einmal versucht, das Steuerprivileg der Kapitallebensversicherung aufzuheben, musste aber später einen Rückzieher machen. Die Branche hatte 1999 ihr bestes Jahr überhaupt. Jetzt fällt das Steuerprivileg tatsächlich, jedenfalls zum größten Teil, und niemand erwartet ein erneutes Umfallen der Regierung.
Prognosen sind nicht möglich
Auch der mit seinen Prognosen sonst recht forsche Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft ist ratlos, was die Neugeschäftsentwicklung 2004 angeht. „Wir können überhaupt keine Prognosen abgeben“, sagte ein Sprecher.
Versicherer, Fondsgesellschaften und Vertriebe sind in einer paradoxen Situation. Einerseits weist ihnen die Politik zunehmend mehr Aufgaben zu, die bisher Sache der gesetzlichen Renten- und Krankenkassen waren. In der Bevölkerung wächst die Auffassung, dass private Vorsorge nötig ist. Der Markt ist da, der Staat hilft – was will eine Branche mehr.
Aber in Wahrheit herrscht bei den Anbietern eine tiefe Verunsicherung. Vier Jahre nach Beginn der Aktienkrise, die sowohl Fonds als auch Lebensversicherer schwer beutelte, haben die Unternehmen noch immer nicht richtig Tritt gefasst.
Dafür gibt es eine Reihe von vordergründigen Ursachen. Die Politik sorgt fast täglich für große Unruhe. In der Krankenversicherung vergällt die Diskussion der Parteien über Kopfpauschale und Bürgerversicherung den privaten Krankenversicherern den Alltag – das Wachstum flacht ab. Aber auch die gesetzlichen Änderungen bei Lebens- und Rentenversicherungen bewirken Unsicherheit. Wollen die Verbraucher die Rürup-Rente kaufen, obwohl sie nicht vererbt oder zu Bargeld gemacht werden kann? Wie sehen intelligente Produkte aus, die den bisherigen Renner Kapitallebensversicherung ersetzen könnten? Wie wirkt sich die Arbeitsmarktreform Hartz IV mittelfristig aus? Plausible Antworten auf diese Fragen hat kaum eine Gesellschaft. Die Produktentwicklung läuft auf Hochtouren, erste Ergebnisse werden auf internen Schulungen und – sehr vorsichtig – öffentlich bei Kongressen und Messen dargestellt, etwa bei der Dortmunder Deckungskonzeptmesse, die am 26. Oktober beginnt.
Die Verunsicherung hat aber noch andere, tiefer liegende Gründe. Die Einführung der Eigenkapitalvorschriften nach Solvency II führt spätestens ab 2007 zu einer massiven Verknappung von Eigenkapital. Die neuen Bilanzvorschriften nach den International Financial Reporting Standards (IFRS) schränken den gewohnten Handlungsspielraum weiter ein. Die anstehende Reform des Versicherungsvertragsgesetzes und die Umsetzung der EU-Vermittlerrichtlinie in nationales Recht lösen Umwälzungen aus, deren Ausmaß kaum ein Unternehmen abschätzen kann.
Daneben vermiesen kleinere Unwägbarkeiten die Stimmung – etwa das fortdauernde Kartellverfahren gegen renommierte Gesellschaften wegen angeblicher Preisabsprachen in der Industrieversicherung oder das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht wegen der Überschussbeteiligungen in der Lebensversicherung.
Stille Reserven aufgebraucht
Die Branche reagiert nervös und empfindlich. Das ist auch kein Wunder: All die Schönheiten der neuen Aufsichts- und Prüfungswelt wie Solvency II und IFRS kosten Managementzeit und vor allem sehr viel Kapital. Jahrzehntelang war das kein Problem. Bis 1994 waren die Märkte reguliert, da hatten die solide arbeitenden Versicherer hohe stille Reserven, die sie im Notfall mobilisieren konnten. Nach der Liberalisierung regierten sechs Jahre lang die Kapitalanleger, die gigantische Börsengewinne vorzeigen konnten.
Aber auch das ist seit 2001 vorbei. Selbst kleine und mittlere Versicherer verbrannten Milliarden an der Börse. Die stillen Reserven sind größtenteils verbraucht. Stattdessen schleppt die Branche rund 5 Mrd. Euro an Verlusten noch als stille Lasten mit.
Die Verkaufsförderung durch die Politik hat einen hohen Preis – der Staat mischt sich zunehmend in die Geschäftspolitik ein. Die gut gemeinte Riester-Rente mit ihrer Bürokratie war nur ein Vorgeschmack. Manager fürchten, dass auch die Rürup-Rente floppt. Wie Seiltänzer müssen die Unternehmen die Balance zwischen Regelungswut der Politik und Anforderungen des Marktes finden. Ein Absturz ist nicht ausgeschlossen.
Die klugen Versicherungsmanager wissen, dass die schönen Zeiten des ausgehenden 20. Jahrhunderts niemals wiederkommen. Sie machen ihre Unternehmen wetterfest. Andere hoffen, dass sich alles zum Guten wendet. Ihre Zeit ist abgelaufen.
Bild(er):
Wie Seiltänzer müssen die Unternehmen die Balance zwischen Regelungswut der Politik und Anforderungen des Marktes finden. Ein Absturz ist möglich – Gettyimages/Stone
Quelle: Financial Times Deutschland
Dieser Beitrag ist nur für Premium-Abonnenten vom Versicherungsmonitor persönlich bestimmt. Das Weiterleiten der Inhalte – auch an Kollegen – ist nicht gestattet. Bitte bedenken Sie: Mit einer von uns nicht autorisierten Weitergabe brechen Sie nicht nur das Gesetz, sondern sehr wahrscheinlich auch Compliance-Vorschriften Ihres Unternehmens.
Diskutieren Sie mit
Kommentare sind unseren Abonnenten vorbehalten. Bitte melden Sie sich an oder erwerben Sie hier ein Abo