Verfassungsrichter könnten die Branche zu mehr Transparenz zwingen · Kunden klagen wegen Bemessung der Überschüsse
Von Herbert Fromme, Karlsruhe, und Nicola de Paoli, Hamburg Die Richter im Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts haben gestern erhebliche Zweifel an der Transparenz der klassischen deutschen Lebensversicherung geäußert. Der Senat verhandelte drei Verfassungsbeschwerden zur Stellung der Kunden im Verhältnis zu Lebensversicherern. Sie könnten nach Auffassung von Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier „weitreichende Konsequenzen für den gesamten Sektor der Kapitallebensversicherung“ haben.
Nach dem gestrigen Verhandlungstag scheint es möglich, dass die Assekuranz künftig auch bei klassischen Lebensverträgen viel mehr Offenheit zeigen muss. Ein Urteil wird für Anfang 2005 erwartet.
Mehrfach fragten Verfassungsrichter nach, ob die deutlich transparenteren Regeln der Riester-Rente und die Verteilung der Vertriebskosten auf mehrere Jahre nicht auch bei klassischen Lebensversicherungen angewandt werden könnten. Bei der Riester-Rente muss ausgewiesen werden, welche Anteile der Prämie für Kosten und Risikoschutz aufgewendet und welche Teile angespart werden.
Die Sprecher der Assekuranz reagierten auf die Nachfragen defensiv und argumentierten im Wesentlichen mit der mangelnden Akzeptanz der Riester-Rente beim Verbraucher.
Der Versicherungs-Ombudsmann Wolfgang Römer verwies dagegen auf zahlreiche Beschwerden von Kunden über die Überschussbeteiligung bei klassischen Lebensversicherungen. „Das eigentliche Problem in der Praxis ist die mangelnde Information“, sagte Römer.
Die Verfassungsbeschwerden richten sich gegen Urteile des Bundesgerichtshofs und weiterer Gerichte. Es geht um die Einbeziehung von stillen Reserven in die Überschussbeteiligungen, die den Kunden zustehen, sowie um die Behandlung von stillen Reserven bei der Übertragung von Versicherungsbeständen auf andere Unternehmen. Bundesregierung und Versicherungswirtschaft halten die Beschwerden für unbegründet.
Die Beschwerdeführer werden von der Verbraucherorganisation Bund der Versicherten unterstützt. Rechtsanwältin Astrid Wallrabenstein vertritt alle zwölf Beschwerdeführer. Sie argumentierte, die Kunden hätten keine Möglichkeit, die Überschussbeteiligung prüfen zu lassen – die Gerichte verwiesen regelmäßig auf die Finanzaufsicht BaFin, die BaFin auf die Möglichkeit der gerichtlichen Prüfung. Das sei eine Einschränkung der Grundrechte. Einen Markt gebe es faktisch nicht, weil die Kunden nicht ohne schwere Nachteile das Unternehmen wechseln könnten.
Die Versicherer warnten, ohne die Möglichkeit, in guten Zeiten stille Reserven aufzubauen und in schlechteren Zeiten aufzulösen, sei die klassische „deutsche“ Kapitallebensversicherung mit dauerhaften Zinsgarantien nicht mehr möglich.
Stille Reserven entstehen, wenn Versicherer Kapitalanlagen mit einem niedrigeren als dem Marktwert in der Bilanz haben – etwa weil Aktien oder Grundstücke im Wert gestiegen sind. Dieses so genannte Niederstwertprinzip ist nach dem deutschen Handelsgesetzbuch vorgeschrieben. Allerdings könnte die Assekuranz durch Einführung der internationalen Bilanzierungsregeln IFRS unter Druck geraten. Wenn dadurch das Niederstwertprinzip kippt, „weiß man nicht, wohin die Reise geht“, sagte Günter Bost vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft. „Das hätte erhebliche Konsequenzen für die Assekuranz“, sagte Bost.
Gestern meldete sich auch das Bundesjustizministerium zu Wort: „Die Bundesregierung hält das geltende Versicherungsrecht für verfassungsgemäß.“ Es verwies auf das neue Versicherungsvertragsgesetz (VVG). Das Gesetzgebungsverfahren solle 2005 durchgeführt werden, das Gesetz am 1. Januar 2008 in Kraft treten. Die Kommission zur Reform des VVG habe im Hinblick auf die Überschussbeteiligung Verbesserungen für die Versicherungsnehmer vorgeschlagen, die in den Gesetzesentwurf übernommen würden. „Bislang gibt es im VVG keine ausdrücklichen Vorschriften über den Anspruch des Versicherungsnehmers auf Überschussbeteiligung. Das halte ich rechtspolitisch für unbefriedigend und will es deshalb noch in dieser Legislaturperiode ändern“, sagte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries.
Die Versicherer sollten ausdrücklich verpflichtet werden, dem Versicherungsnehmer diejenigen Überschüsse zuzuteilen, die durch seine Prämienzahlung „verursacht“, also durch Anlage der eingezahlten Prämie erwirtschaftet worden seien. Die Verteilungsgrundsätze müssten „angemessen“ sein und seien insoweit auch gerichtlich überprüfbar.
Zitat:
„Das Problem ist die mangelnde Information“ – Wolfgang Römer, Ombudsmann
Bild(er):
Ernste Mienen: Die Zukunft der klassischen Lebensversicherung wird das Verfassungsgericht in Karlsruhe noch mindestens bis Anfang kommenden Jahres beschäftigen – AP/Winfried Rothermel
Quelle: Financial Times Deutschland
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