Moderne Aktuare brauchen mehr als ein Gefühl für Zahlen. Sie erkennen und managen Risiken, damit Versicherer bei negativen Entwicklungen gegensteuern
VON Anja Krüger und Patrick Hagen Vom Rechenknecht zum Risikomanager – so sieht Aktuar Johannes Lörper den Wandel seines Berufsstands. „Die Aufgaben des Aktuars haben durch die starken Veränderungen in der Versicherungswirtschaft ein anderes Gewicht bekommen als früher“, sagt Lörper, der Vorstand der Lebensversicherer von Victoria und Hamburg-Mannheimer ist. Sie gehören zur Ergo-Gruppe und damit zur Münchener Rück.
Früher waren Risiken weitaus überschaubarer, erinnert sich Lörper. Die Versicherer hatten weniger in Aktien investiert, die Finanzmarktrisiken waren kleiner und die Verbindlichkeiten kurzfristiger. „Das Profil des Aktuars als Risikomanager ist durch diese Veränderungen immer weiter geschärft worden“, sagt er. Früher habe es in den Unternehmen Chefmathematiker gegeben, die jeden Tarif selbst ausrechneten. „Das gibt es heute nicht mehr“, betont er.
In der Vergangenheit hatten Aktuare bei Kollegen aus anderen Abteilungen den Ruf, einfach stur Vorschriften abzuarbeiten. Vielen galten sie als der verlängerte Arm der Aufsicht. Diese Zeiten sind vorbei. Es reicht nicht mehr, Erfahrungen auszuwerten und für die Tarifkalkulation die historischen Werte um einen Risikopuffer zu ergänzen.
„Aktuare müssen viel mehr Szenarien für die Zukunft simulieren als früher“, sagt der Vorsitzende der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV), Norbert Heinen. Versicherungsmathematiker spielen Tausende von möglichen Fällen durch, um die denkbar schlechtesten Entwicklungen zu identifizieren und Gegenmaßnahmen vorzubereiten.
Die neuen Aktuare benötigen auch ein anderes Fachwissen. „Die Versicherungsmathematik versucht jetzt, den Anschluss zu finden an die modernen finanzmathematischen Theorien und ihre praktischen Möglichkeiten“, sagt Heinen, der auch Geschäftsführer beim Berater B&W Deloitte ist. Der Aktuarberuf biete deswegen vor allem für junge Akademiker gute Chancen. „Die bringen das theoretische Rüstzeug mit, das diejenigen mit 30 Jahren Berufserfahrung nicht mitbekommen haben“, sagt er. In Zukunft wird der Aktuar so gefragt sein wie nie zuvor. Und das nicht nur bei den Versicherern. Beratungsunternehmen wie KPMG oder Deloitte suchen bereits verzweifelt nach Nachwuchs. Auch die Finanzdienstleistungsaufsicht BaFin benötigt vermehrt Versicherungsmathematiker, um sie die Arbeit ihrer Kollegen in der Assekuranz kontrollieren zu lassen.
Traditionell berechnen Aktuare mit den Methoden der Wahrscheinlichkeitstheorie, der mathematischen Statistik und der Finanzmathematik, welchen Preis der Kunde für eine bestimmte Versicherung zahlen muss. Daneben ermitteln die Aktuare in der Lebensversicherung die Höhe der Überschussbeteiligung für die Kunden. Die Versicherer müssen Kunden angemessen an den Kapitalerträgen und anderen Überschüssen beteiligen, die mit den Beiträgen erwirtschaftet werden.
Mit der Einführung von Solvency II erweitert sich ihr Arbeitsspektrum deutlich. Jetzt sind sie auch dafür zuständig, Risiken auf der Kapitalanlageseite aktuariell zu bewerten. Das neue System gibt ihnen auch eine Rolle bei der Berechnung des Eigenkapitalbedarfs der Versicherer.
Nach dem Zinsrückgang der 90er-Jahre und dem Börsencrash von 2001 und 2002 ist das Thema Kapitalanlage ins Blickfeld der Assekuranz gerückt. Viele Versicherer haben unter Zins- und Kursrückgängen gelitten und mussten Verluste verbuchen. Die Aufgabe der Aktuare ist, dafür zu sorgen, dass Kapitalanlagen und versicherungstechnische Verpflichtungen so gut wie möglich aufeinander abgestimmt sind.
Die Aktuarvereinigung hat auf die neuen Herausforderungen reagiert und den Zugang zum Berufsverband erschwert. Die Berufsbezeichnung Aktuar ist nicht geschützt. Die DAV ist die berufsständische Vereinigung der deutschen Aktuare. Mitglieder dürfen die drei Buchstaben der Organisation in Klammern hinter ihre Berufsbezeichnung stellen – die Voraussetzung für eine Führungsposition.
Die meisten der fast 2800 Mitglieder sind bei Erstversicherern tätig, andere wie der Vorsitzende Heinen bei einem Beratungsunternehmen. Außerdem sind rund 1800 Versicherungsmathematiker Anwärter auf eine Mitgliedschaft. Die Vereinigung nimmt nur Kollegen auf, die mindestens drei Jahre Berufserfahrung und eine ganze Palette an Prüfungen bestanden haben. Seit 2006 müssen Kandidaten elf Prüfungen im Grundwissen und eine im spartenbezogenen Spezialwissen ablegen sowie die Teilnahme an zwei Pflichtseminaren nachweisen – vorher mussten sie nur sechs Tests bestehen. Zu den Prüfungsgebieten gehört nun neben Fächern wie Personen- und Schadenversicherungsmathematik das Fachgebiet Modellierung. Hier stehen die Konstruktion und das Management von möglichen Risiken im Vordergrund.
Mit den zusätzlichen Anforderungen trägt die DAV auch den neuen Herausforderungen Rechnung, die durch Solvency II auf die Versicherungsmathematiker zukommen. In Zukunft wird die Höhe des Eigenkapitals, das ein Versicherer vorhalten muss, nicht mehr allein von seinem Geschäftsvolumen abhängen. Entscheidend sind vielmehr die Risiken, die in seinen Beständen und Kapitalanlagen schlummern. „Mit Solvency II wird der Ermessensspielraum des Aktuars größer“, sagt Heinen. Damit steigt die Verantwortung des Aktuars für die Belastbarkeit der Versicherer.
Zitat:
“ „Der Aktuar muss Szenarien für die Zukunft modellieren“ “ – Norbert Heinen,DAV-Vorsitzender –
Bild(er):
Gegen das plötzliche Verschwinden des Partners vor dem Traualtar können sich Verlobte nicht versichern. Die Hochzeitsrücktrittskosten-Versicherung deckt aber den finanziellen Schaden, wenn die Hochzeitstorte wegen plötzlichem Tod oder Krankheit der Braut oder des Bräutigams von anderen gegessen wird – Getty-Images/Mike Kemp/Rubberball
Quelle: Financial Times Deutschland
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