Betriebsräte bejubeln es, Arbeitgeber verdammen es: Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz spaltet ein Jahr nach Inkrafttreten die Gemüter. Die Verunsicherung bei den Unternehmen ist groß. Nur die Versicherer wittern gute Geschäfte
Von Anja Krüger und Herbert Fromme, Köln Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ist nicht jedermanns Sache. Aber seit einigen Wochen hat es immerhin acht neue Fans: Lagerarbeiterinnen der Hamburger Logistikfirma Süderelbe. Jahrelang wurden die Frauen für die gleiche Arbeit schlechter bezahlt als ihre männlichen Kollegen. Ihr Arbeitgeber ordnete sie in den Gehaltstarifvertrag für die kaufmännischen Beschäftigten im Speditions- und Logistikbereich ein. Die Männer hingegen bekamen den deutlich lukrativeren Lohntarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Für den Betriebsrat ein klarer Fall von Diskriminierung. Er klagte, erstritt Anfang Juli einen Vergleich. Jetzt erhalten die Frauen 250 Eurobis 350 Euro mehr im Monat.
Dieser Präzedenzfall dürfte Schule machen. Morgen vor genau einem Jahr trat das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) in Kraft. Seither haben Betriebsräte eine neue Waffe, um wegen Benachteiligung von Beschäftigten gegen den Arbeitgeber vor Gericht zu ziehen. „Das ist eine sehr elegante Möglichkeit, bei struktureller Diskriminierung zu klagen“, sagt der Jurist Klaus Bertelsmann, der den Süderelbe-Betriebsrat vertritt. Auch einzelne Beschäftigte können vor Gericht ziehen; oft aber verzichten sie darauf – aus Angst vor einer negativen Reaktion ihres Unternehmens. Betriebsräte haben da weniger Skrupel.
Ein Jahr nach seiner Geburt spaltet das Antidiskriminierungsgesetz die deutsche Wirtschaft. Während sich die Arbeitnehmerseite zunehmend mit ihm anfreundet, klagen die Arbeitgeber über Rechtsunsicherheit und Ineffizienz. „Für uns als Unternehmer hat es nur neue Bürokratie und zusätzliche Kosten gebracht“, sagt etwa der Präsident des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft, Mario Ohoven. Nur eine Branche zählt zu den uneingeschränkten Befürwortern des Gesetzes: die Versicherer. Denn diese wittern einen neuen Markt – für sogenannte AGG-Policen.
Bislang hielt sich die Zahl der Prozesse wegen Verletzung des Gesetzes in Grenzen. Nun aber rollt eine Welle von Ansprüchen auf die Betriebe zu. Immer mehr Beschäftigte oder abgelehnte Bewerber wollen von Unternehmen eine Entschädigung oder ziehen direkt vor Gericht, weil sie sich benachteiligt fühlen. Allein das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg hat zwischen August 2006 und April 2007 den Eingang von 109 AGG-Klagen gezählt.
An Möglichkeiten zur Beschwerde mangelt es nicht: Das Gesetz verbietet auch die Diskriminierung wegen Alter, Behinderung, Hautfarbe, ethnischer Herkunft, sexueller Identität, Religion und Weltanschauung. Wer benachteiligt oder herabgewürdigt wird, hat Anspruch auf Schadensersatz – auch für Beeinträchtigungen wie psychische Belastungen oder Störungen.
Selbst Konsumenten nutzen das AGG für ihre Zwecke. So wollen Volksmusikfans das ZDF wegen Altersdiskriminierung verklagen – weil der Sender die „Lustigen Musikanten“ nicht mehr ausstrahlt. Ihre Erfolgsaussichten dürften eher mäßig sein.
Auch beim ersten prominenten Prozess verloren die Kläger. Drei Piloten wollten erreichen, dass die Lufthansa wegen Altersdiskriminierung verurteilt wird, da sie mit 60 Jahren in Rente gehen müssen. Das Gericht wies die Klage ab. In einem anderen Verfahren wegen Altersdiskriminierung verlor die Lufthansa. Sie musste einer 46-jährigen Stewardess 4000 Euro Schadensersatz zahlen, weil deren befristeter Vertrag nicht in einen unbefristeten umgewandelt wurde.
Für die Assekuranz tut sich nun ein neues Geschäftsfeld auf: Rund ein Dutzend Versicherer bieten bereits AGG-Policen an. Mit ihnen können sich Firmen gegen Entschädigungsleistungen für Beschäftigte, Bewerber oder Kunden schützen.
Mögliche Anwendungsfälle gäbe es in Hülle und Fülle. Das zeigen allein die Schadensmeldungen: Ein italienischer Lehrling eines Bauunternehmens will Schadensersatz, weil er im Spind eines Kollegen rassistische Sprüche gesehen hat. Ein Rollstuhlfahrer droht einer Firma, weil er die Ablehnung seiner Bewerbung auf seine Behinderung zurückführt. Und als Fensterputzer die Angestellten eines Büros belästigten, suchte sich deren Auftraggeber eine neue Reinigungsfirma – und verlangt von der alten nun die Erstattung der Mehrkosten.
Glaubt man den Werbeschriften des Wiesbadener Versicherers R+V, so herrscht in deutschen Betrieben ein rauer Ton, der Ansprüche von Beschäftigten wahrscheinlich macht. „In der Firma gibt es einen homosexuellen Kollegen“, heißt es im R+V-Mediendienst, „niemand ruft ihn beim Namen, alle nennen ihn nur ,Schwuchtel‘.“ Oder: „Ein farbiger Mitarbeiter wird in der Firma nur ,Schoko-Crossie‘ gerufen.“ Solch „ein unbedachter Lapsus kann für den Unternehmer teuer werden“, schreibt die R+V. Gerade kleine Betriebe seien oft erschreckend uninformiert und böten Angriffsflächen.
Insgeheim hofft die Assekuranz auf spektakuläre Fälle, sind diese doch die beste Werbung für ihre AGG-Policen. Die Versicherer versprechen, im Ernstfall Anwalts- und Gerichtskosten sowie die Entschädigung zu übernehmen. „Im Paket der Firmenversicherungen wird die AGG-Police ihren Platz erkämpfen“, sagt Dieter Schimmer, Experte der Allianz für das neue Geschäftsfeld. Seit Oktober haben die Münchner rund 650 Verträge verkauft. Ein Betrieb mit 2 Mio. Euro Jahresumsatz zahlt für eine Versicherungssumme von 200 000 Euro immerhin rund 700 Euro Prämie.
Erste Schadensmeldungen sind bei der Allianz bereits eingegangen. Da ist eine abgewiesene Bewerberin, die wegen einer angeblich nicht neutralen Stellenanzeige 30 000 Euro verlangt. Oder ein aus Altersgründen nicht beförderter Angestellter, der sogar einen sechsstelligen Betrag fordert. Solche Beispiele würden Schule machen, prophezeit Schimmer: „Die Unternehmen werden sich daran gewöhnen müssen, dass es nicht nur um kleine Summen geht.“
Bislang war das Problem Diskriminierung nur für deutsche Firmen mit Töchtern im angloamerikanischen Raum ein Thema. Spektakuläre Fälle mit schier unglaublichen Schadensersatzzahlungen sorgen immer wieder für Schlagzeilen. DaimlerChrysler etwa wurde in den USA wegen sexueller Belästigung einer Mitarbeiterin zur Zahlung von 21 Mio. $ verurteilt.
Versicherungen für Diskriminierungsrisiken von Arbeitgebern bestehen in Amerika schon seit 1992. Die Employment Practices Liability Insurance (EPLI) übernimmt die Kosten für den Rechtsstreit und die Entschädigungszahlung. „Risikobewusste US-Töchter deutscher Unternehmen haben in der Regel eine EPLI-Deckung“, sagt Philipp Lienau von HDI-Gerling. Der Versicherer will im Herbst Policen für Deutschland auf den Markt bringen.
Durch die Debatte um das AGG hat sich die Haltung der Manager in den hiesigen Konzernzentralen verändert. Bislang haben sie es den Töchtern in den USA oder Großbritannien überlassen, für ausreichenden Versicherungsschutz zu sorgen. „Jetzt will der Vorstandsvorsitzende in Deutschland wissen, wie das Problem weltweit gelöst ist“, sagt Lienau. Die Konzernchefs wollen immer mehr Kontrolle über den Versicherungsschutz – vom Heimatland aus.
Die unklare Rechtslage und widersprüchliche Urteile verunsichern die Arbeitgeber. So will der Gesetzgeber, dass das AGG nicht bei Entlassungen anwendbar ist. Viele Experten halten diese Klausel aber für europarechtswidrig. Auch ein Urteil des Arbeitsgerichts Osnabrück sorgt für Irritation: Im Fall geht es im 619 Beschäftigte, denen aus betriebsbedingten Gründen gekündigt wurde. Betriebsrat und Firmenleitung vereinbarten einen Sozialplan, der die Bildung von Altersgruppen bei der Auswahl der gekündigten Beschäftigten vorsah. Die Richter urteilten, dass dies gegen das AGG verstoße. Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen kassierte das Urteil – und ließ zugleich die Revision zum Bundesarbeitsgericht zu. „Ein Fall reicht, um in der ganzen Bundesrepublik Verunsicherung auszulösen“, sagt der Arbeitsrechtler Roland Wolf von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände.
Ein weiteres Beispiel: Unternehmen müssen eine Beschwerdestelle einrichten, an die sich Mitarbeiter nach einer Diskriminierung oder Belästigung wenden können. Im vergangenen Oktober urteilte das Arbeitsgericht Frankfurt, dass der Betriebsrat bei der Einrichtung dieser Stelle ein Mitbestimmungsrecht habe. Fünf Monate später entschieden die Richter des Arbeitsgerichts Hamburg exakt das Gegenteil.
Trotz der Verunsicherung haben die Versicherer noch keinen Run auf ihre AGG-Policen festgestellt. „Viele Unternehmen warten ab, ob das Gesetz ein Papiertiger bleibt“, sagt Georg Klinkhammer vom Deutschen Versicherungs-Schutzverband, der die Interessen der Wirtschaft vertritt. „Bis jetzt geht es um einige Tausend Euro – nichts, was die Bilanz belastet.“ Aber das könnte sich in den kommenden Monaten ändern.
Zitat:
„Ein unbedachter Lapsus kann teuer werden“ – R+V Versicherung –
Bild(er):
Gleichung mit vier Unbekannten: Welche Folgen das AGG haben wird, ist schwer einzuschätzen. Streit ist aber programmiert, es geht um viel Geld
www.ftd.de/agg
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Neues Gesetz, neue Geschäfte
Quelle: Financial Times Deutschland
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