Lange wurde die Versorgungsforschung vernachlässigt. Krankenkassen, Politik und Industrie erkennen immer deutlicher die Chancen der praxisnahen Studien
VON Ilse Schlingensiepen, Köln
Der gebrochene Fuß ist geheilt, die Patientin aus der Klinik entlassen. Alles scheint in Ordnung. Was die Patientin nicht weiß: Sie hat Osteoporose, es ist sehr wahrscheinlich, dass sie sich erneut einen Knochen bricht. „Eine von fünf Frauen erleidet innerhalb von fünf Jahren einen weiteren Bruch“, sagt Karsten Dreinhöfer, Oberarzt für Orthopädie an der Uniklinik Ulm. Die Ärzte im Krankenhaus kümmern sich um die Brüche – sie suchen aber meist nicht die Ursache. „80 Prozent verlassen die Kliniken operativ gut versorgt, aber unversorgt für die nächste Fraktur“, sagt Dreinhöfer.
Ans Licht gebracht hat das eine Studie mit fast 5500 Patienten aus acht Ländern, darunter Deutschland. Dreinhöfer und seine Kollegen wollten herausfinden, ob bei älteren Patienten mit Knochenbrüchen Osteoporose diagnostiziert und behandelt wird. Das ernüchternde Ergebnis: Nur elf Prozent der Patienten wurden entsprechend untersucht und therapiert.
Solche Missstände offenbart nur eine systematische Versorgungsforschung. Während klinische Studien unter Laborbedingungen die Wirkung von Arzneimitteln oder Therapien untersuchen, widmet sich die Versorgungsforschung der Frage, ob und wie diese Therapien bei den Patienten ankommen und ob Kranke erhalten, was sie benötigen. Über Jahrzehnte wurden solche Fragen in Deutschland vernachlässigt. Nun wird die Forschung auch hierzulande verstärkt.
Das könnte das Gesundheitssystem der Zukunft beeinflussen. Die Krankenkassen werden die Ergebnisse der Versorgungsforschung verstärkt in die Entscheidung einbeziehen, ob sie eine Leistung erstatten oder nicht, erwartet der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem. „Die Kassen werden in Zukunft auch auf die Versorgungsdaten gucken“, sagt er. Ökonomisch gehe es um den wirtschaftlichsten Einsatz der Mittel. Es bestehe daher „ein starkes Interesse an der Abbildung des Versorgungsalltags, wie ihn die Versorgungsforschung untersucht“, sagt Wasem.
Dieses Interesse lässt sich auch in der Politik erkennen. „Wir messen der Versorgungsforschung eine besondere Bedeutung bei“, sagt Maria Becker, Referatsleiterin Forschungsangelegenheiten im Bundesgesundheitsministerium. Über die Förderung einzelner Projekte und das gemeinsame Gesundheitsforschungsprogramm mit dem Forschungsministerium unterstütze das Ministerium entsprechende Studienprojekte, so Becker.
Ein Beispiel ist das „Leuchtturmprojekt Demenz“. Dabei geht es vor allem um eine Frage: Wie kann man die Versorgung von Demenzkranken und die Unterstützung ihrer Angehörigen verbessern? 2008 und 2009 fließen rund 13 Mio.Euro Fördergelder – nicht viel im Vergleich zu anderen Forschungsgebieten.
Die öffentliche Hand müsse viel mehr Geld bereitstellen, fordert etwa Bertram Häussler, Geschäftsführer des Berliner Instituts für Gesundheits- und Sozialforschung. „Bislang ist die Industrie mit 80 Prozent der Hauptsponsor“, sagt Häussler. Die Politik setze generell zu wenig auf Evaluationen.
Anders sei das etwa in den Niederlanden, so Häussler. „Dort werden Regelungen nach einem bestimmten Zeitpunkt überprüft, und die Politik stellt sich dem Risiko, dass sie sich als Flop erweisen.“ In Deutschland würden Konzepte wie die Hausarztmodelle oder die Disease-Management-Programme eingeführt, ohne sie einer kritischen Überprüfung zu unterziehen, bemängelt Häussler.
Mehr staatliches Engagement fordert auch die Industrie. „Versorgungsforschung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, wir können nicht allein der Industrie die Kosten aufbürden“, sagt Gabriela Soskuty vom Medizintechnikunternehmen B. Braun Melsungen. Sie fordert eine „interessengebundene oder themengebundene Aufteilung der Kosten“.
Bislang gehen Versorgungsstudien vor allem von der Industrie aus. Nach der Markteinführung ihrer Produkte erhoffen sich die Unternehmen von den Studien wichtige Erkenntnisse über die Absatzchancen und -potenziale auf dem Markt. „Wir benötigen Daten aus der Routineversorgung, um am Ende sagen zu können: Nützt es oder nützt es nicht?“, sagt Soskuty.
Am Ende, so die Hoffnung, könnte ein effizienteres und besseres Gesundheitssystem stehen. „Wir brauchen die Versorgungsforschung, weil das Gesundheitssystem krank ist“, sagt Holger Pfaff von der Universität Köln, Sprecher der Clearingstelle Versorgungsforschung Nordrhein-Westfalen. „Wir haben zwar ein gutes Wissen und gute Konzepte, aber wir wissen nicht, ob und wie sie in der Realität ankommen“, sagt er. In Deutschland habe sich der Forschungszweig später durchgesetzt als in anderen Ländern, inzwischen aber ein hohes Niveau erreicht. „Wir haben gute Daten, und wir können international Flagge zeigen.“ Die Forschung arbeite mit klaren, nachprüfbaren Methoden, betont er. „Versorgungsforschung ist keine Forschung light.“
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Gesundheitswirtschaft
Quelle: Financial Times Deutschland
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