Bis 2014 gelten gelockerte Überschuldungsvorschriften. Sie sollen Insolvenzenverhindern
Von Patrick Hagen
Als die große Koalition im Oktober 2008 das Rettungspaket für die Finanzbranche beschloss, standen die Banken im Vordergrund. Doch das Finanzmarktstabilisierungsgesetz enthält auch eine Regelung, die nach Ansicht von Experten viele Mittelständler vor der Pleite gerettet hat.
Vor der Änderung war das Insolvenzrecht unerbittlich: Überstiegen die Verbindlichkeiten eines Unternehmens seine Vermögenswerte, musste das Management innerhalb von drei Wochen den Gang zum Insolvenzrichter antreten. Das hätte für viele Unternehmen das Aus bedeutet, da Vermögenswerte wie Wertpapiere oder Immobilien durch die Finanzkrise stark gesunken sind.
„Zu den Wertminderungen kam bei vielen Unternehmen ein Umsatzeinbruch“, sagt Mittelstandsexperte Norbert Winkeljohann vom Wirtschaftsprüfer PricewaterhouseCoopers (PwC). „Ohne die Änderung hätte es deutlich mehr Insolvenzen gegeben.“
Bei der Frage, ob eine Überschuldung vorliegt, wird jetzt der Einschätzung des Managements über die Chancen des Unternehmens deutlich höheres Gewicht eingeräumt. Fällt diese so genannte Fortführungsprognose positiv aus, liegt keine Überschuldung vor, auch wenn die Vermögenswerte die Schulden nicht decken. „Es ist daher durchaus denkbar, dass eine Gesellschaft sehr viel höhere Verbindlichkeiten als Vermögenswerte aufweist und dennoch nicht insolvenzrechtlich überschuldet ist“, sagt der auf Restrukturierungen spezialisierte Anwalt Wolfram Desch von der international tätigen Kanzlei Lovells.
Über die Fortführungsprognose entscheidet das Management selbst. Die Einschätzung ist aber kein Freibrief für die Führungskräfte. Ein Unternehmen mit einer positiven Prognose darf im laufenden und im darauf folgenden Geschäftsjahr nicht zahlungsunfähig werden. Im Zweifel muss die Geschäftsleitung später beweisen, dass sie zu Recht eine positive Prognose gestellt hat. Desch empfiehlt Unternehmen die Erstellung einer lückenlosen Dokumentation, die es später möglich macht, die Prognose nachzuvollziehen.
Banken, die Kredite geben sollen, verlassen sich allerdings nicht nur auf die Prognose, sondern schauen genauer hin. „Häufig fordern Banken auch Wirtschaftsprüfer als unabhängige Dritte an“, sagt Winkeljohann von PwC. „Die Regelung hilft Unternehmen, die Probleme haben, deren Geschäftsmodell aber funktioniert.“
Ab Anfang 2014 gilt allerdings wieder die alte Regel. Bis dahin muss eine rechnerische Überschuldung in den Firmen beseitigt sein. Ursprünglich galten die geänderten Spielregeln sogar nur bis 2011, wurden aber im vergangenen Jahr verlängert. Nach Ansicht von Anwalt Desch war das sinnvoll, da viele Unternehmen ansonsten schon in diesem Jahr keine positive Fortführungsprognose hätten stellen können.
Die gelockerte Überschuldungsregel ist zwar eine Erleichterung für viele Firmen stellt aber eine Gefahr für Geschäftpartner dar. Geht ein Unternehmen trotz positiver Fortführungsprognose pleite, fällt die Insolvenzmasse kleiner aus. „Eine Insolvenz ist für die Gläubiger umso besser, je früher sie gestellt wird“, sagt Michael Bretz von der Auskunftei Creditreform. Je länger sie herausgezögert wird, desto weniger bleibt am Ende übrig, um ausstehende Forderungen von Zulieferern oder Dienstleistern zu begleichen.
Trotzdem steht Bretz der gelockerten Insolvenzregel grundsätzlich positiv gegenüber. Ihre Bedeutung für die Praxis dürfe allerdings nicht überschätzt werden. „Die überwiegende Mehrzahl der Insolvenzen in Deutschland erfolgt nicht aufgrund von Überschuldung, sondern aufgrund von Zahlungsunfähigkeit“, sagt Bretz.
Quelle: Financial Times Deutschland
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