Sturmlauf in der Arztpraxis

Die Kassen überweisen mehr Geld denn je an niedergelassene Ärzte. Trotzdemsind die Medi- ziner mit dem neuen Honorarsystem unzufrieden. Nun sollnachgebessert werden

VON Ilse Schlingensiepen

Plakate wie „Junge Ärzte gehen nicht nur ins Ausland, … sondern auch in andere Bundesländer“ und „Mein Geld geht fremd … meine Versicherungsbeiträge unterstützen die Wirtschaft in den anderen Bundesländern“ zieren nordrhein-westfälische Arztpraxen. So bringen die niedergelassenen Mediziner im bevölkerungsreichsten Bundesland ihren Ärger darüber zum Ausdruck, dass sie für dieselben Leistungen weniger Geld erhalten als die Kollegen anderswo.

„Wir fühlen uns ungerecht behandelt“, sagt Arne Meinshausen aus Witten, einer der Initiatoren der Aktion. Es gehe nicht nur ums Geld, sondern auch um den ärztlichen Nachwuchs. „Im Konkurrenzkampf um junge Ärzte hat Nordrhein-Westfalen schlechte Karten“, sagt Meinshausen. Wenn es im benachbarten Niedersachsen 35 Prozent mehr Geld für die Grundversorgung gebe, lassen sich Mediziner lieber dort nieder, sagt er. Die Patienten in NRW haben das Nachsehen – und ältere Ärzte, die ihre Praxen kaum noch an Nachfolger verkaufen können.

Seit dem 1. Januar 2009 wird nach einem neuen System bestimmt, wie viel Geld die Ärzte für die Behandlung von Kassenpatienten bekommen. Für die Grundversorgung erhalten sie jetzt Pauschalen, ungelenk als Regelleistungsvolumina bezeichnet. Das Problem: Je nach Region und fachlicher Ausrichtung der Ärzte werden die Leistungen unterschiedlich vergütet. Außerdem können manche Fachärzte auch freie Leistungen abrechnen. Andere können das nicht und haben das Nachsehen.

All das sorgt für Ärger und Unruhe. Daran ändert auch nichts, dass die Krankenkassen den Ärzten für 2009 im Vergleich zu 2007 3,4 Mrd. Euro mehr bezahlten, für 2010 weitere 1,7 Mrd. Euro. Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) Andreas Köhler ist zufrieden mit dem bundesweiten Verhandlungsergebnis. „Heute würden wir dieses Ergebnis nicht mehr erreichen“, sagt er angesichts der Finanznot der Kassen. Ein Grundproblem bleibe aber bestehen. „Die jahrelange Unterfinanzierung des ambulanten Bereichs wird damit nicht ausgeglichen.“

Täglich bekommt der oberste Kassenarzt den Ärger von Medizinern zu spüren, die sich benachteiligt fühlen. Die KBV kennt die Schwächen der Reform. „Wir wollen zum 1. Juli nachbessern, etwa bei der regionalen Verteilung.“ Bundesweit einheitliche Preise für die Leistungen habe es noch nie gegeben, sagt Köhler, das sei aber das Ziel. Die Honorarreform habe mehr Transparenz in das System gebracht. „Jetzt werden auch die ungleichen Preise transparent.“

Die Niedergelassenen wissen jetzt viel früher, was sie für die Behandlung von Kassenpatienten erhalten, sagt der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) Ulrich Thamer. Die Berechnungsgrundlage für die Vergütung sei aber völlig intransparent, kritisiert er. „Das können nur noch wenige Experten nachvollziehen.“ Bei der KVWL liegen 25 000 Widersprüche von Medizinern gegen ihre Honorarbescheide. „Das zeigt, wie verunsichert die Ärzte sind.“

Es fehle nach wie vor Planungssicherheit, da das Vergütungssystem immer wieder verändert und ergänzt werde, sagt er. Probleme hätten viele auch mit der Vergütung nach Pauschalen. Sie passe nicht gut zur freiberuflichen Tätigkeit. „Die Pauschalen erleichtern zwar den Praxisalltag, bilden aber die Leistungen des Arztes nicht richtig ab.“ Auch die KBV will künftig wieder mehr Wert auf Einzelleistungsvergütungen legen.

Beide Vergütungsformen haben Vor- und Nachteile, sagt der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem. Der Wissenschaftler ist unparteiischer Vorsitzender des Erweiterten Bewertungsausschusses, in dem Vertreter von Kassen und Ärzten um die Bewertung der ärztlichen Leistungen ringen. „Eine weitgehende Pauschalierung birgt Gefahren der Unterlassung notwendiger Leistungen, eine reine Einzelleistungsvergütung birgt die Gefahr der Leistungsausweitung über das medizinisch Notwendige hinaus“, sagt Wasem.

Er glaubt, dass die Vergütung durch die Reform insgesamt gerechter und einfacher geworden ist. „Ich halte die Vorstellung für unrealistisch, es könnte ein Gebührenverzeichnis auf dem Bierdeckel geben.“

Für Bernhard Winter, stellvertretender Vorsitzender des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte, besteht ein Grundproblem nach der Reform weiter: „Die technischen Leistungen werden überbewertet“, sagt der Gastroenterologe aus Offenbach. Die „sprechende“, zuwendungsorientierte Medizin komme weiter zu kurz. „Der Arzt wird belohnt, der gut durchrationalisierte technische Leistungen anbietet.“

Forderungen aus der Ärzteschaft, die Krankenkassen müssten die Honorare der Niedergelassenen weiter erhöhen, hält Winter für falsch. „Es ist genug Geld im ambulanten System.“ In den vergangenen zehn Jahren habe die Mehrheit der abhängig Beschäftigten schließlich Lohnverluste hinnehmen müssen. Winter: „Ich denke, wir können uns nicht beklagen.“

Quelle: Financial Times Deutschland

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