Die Versicherungslobby ist selbst schuld daran, dass neue Kapitalregeln fürdie Branche sehr kompliziert geworden sind
Ulrich Orbanz
Die Solvenzberechnung für Versicherungsunternehmen werde künftig so komplex, dass die eigenen Manager sie nicht mehr verstehen. Das berichtete jüngst Versicherungskorrespondent Herbert Fromme in der FTD. Und da man in solchen Situationen einen Schuldigen braucht, wurde auch gleich einer benannt – es sind die Aktuare, die speziell ausgebildeten Versicherungsmathematiker. Sie bieten sich an, denn in der Versicherungsbranche glaubte man schon immer zu wissen, dass die Aktuare alles so kompliziert machen, dass es möglichst niemand sonst auf der Welt versteht. Und waren die Mathematiker nicht schon für die Finanzkrise verantwortlich?
Da drängt sich natürlich eine Reihe von Fragen auf: Sind die Solvenzmodelle wirklich zu komplex, weil es Leute gibt, die sie nicht verstehen? Und wenn ja, welche Rolle haben die Aktuare dabei? Welche Rolle haben die Manager selbst? Und welche Rolle haben andere Beteiligte wie etwa Verbände, die Aufsichtsbehörden, die Europäische Kommission oder auch nationale Regierungen?
Um die Gemengelage rund um die neuen internationalen Eigenkapitalregeln Solvency II zu verstehen, muss man noch einmal die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Beteiligten beleuchten.
Die Europäische Kommission möchte einen Binnenmarkt für Versicherungen schaffen und benötigt daher beim Thema Solvenz einen einheitlichen Bewertungsmaßstab. Wie geht man aber damit um, dass es in den Mitgliedsländern der EU unterschiedlichste Traditionen bei Produkten, Reservierung, Versicherungsverträgen und Verbraucherschutzbestimmungen gibt? Jede Regelung birgt die Gefahr, bestehende Verhältnisse in einem Land zu begünstigen und in einem anderen zu benachteiligen. Dann treten die nationalen Regierungen auf den Plan, die am Erhalt ihrer nationalen Versicherungswirtschaft interessiert sind. Die einen möchten die Aktien ihrer Staatsbetriebe schonen, die anderen müssen ihr umfangreiches privates Rentengeschäft schützen, wieder andere möchten die Versicherten stärker an den Risiken beteiligen, um das eigene Kapital möglichst gering zu halten.
Entweder einfacher oder genauer
Die Aufsicht schließlich möchte bei Insolvenzen nicht in der Kritik stehen, und so hat sie ein natürliches Interesse, einen möglichst hohen Sicherheitsstandard einzuführen. Sicherheit bedeutet hier vor allem Sicherheitskapital, und das kostet natürlich Geld. Mit ihrem Anliegen stehen die Aufseher jedoch in unmittelbarem Widerspruch zu den finanziellen Interessen der Versicherungswirtschaft, die zwar aus verschiedenen Gründen ebenfalls an der Sicherheit des Unternehmens interessiert ist, dies aber verständlicherweise zu möglichst geringen Kosten. Noch dazu hat sich bei der Aufsicht seit der Finanzkrise die Ansicht darüber, was ein hoher Sicherheitsstandard ist, erheblich verändert, und das hat diesen Konflikt nicht gerade verringert.
Das Streben nach einer Minimierung des Sicherheitskapitals ist auch ein Grund dafür, dass das ursprünglich einfach gedachte Standardmodell für Solvency II mit der Zeit immer komplizierter wurde. Ein einfacheres Modell hätte bedeutet, dass die Ungenauigkeiten des Modells durch hohe Sicherheitsmittel hätten kompensiert werden müssen. Daher wurde am Standardmodell so lange herumgebastelt, bis es idealerweise jedes Risikoprofil eines Versicherungsunternehmens individuell abbildet – meist um den Preis einer erheblich höheren Komplexität.
Die Grenzen der Mathematik Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass von den Aktuaren bisher noch nicht die Rede war, und das hat auch seinen Grund. Natürlich freuen sich Aktuare, wenn ihre Modelle so genau sind, dass sie gute Vorhersagen erlauben. Aber sie kennen auch die Grenzen der Modellierbarkeit und wissen, dass Vorhersagen im Wirtschaftsunternehmen nicht dasselbe sind wie in Newtons Mechanik.
Sie haben kein Interesse, ihre Arbeitskraft in hochkomplexe Modelle zu stecken, die die nächsten 50 und mehr Jahre vorhersagen sollen und sich dann doch immer wieder als unrealistisch erweisen. Das können sie machen, wenn ihnen das als Aufgabe gestellt wird, aber viel lieber würden sie dazu beitragen, die Modelle so stabil und transparent wie möglich zu gestalten, damit sie auch als praktische Entscheidungshilfe dienen können.
Die Aktuare haben sich mit vielen Beiträgen an der Diskussion um Solvency II beteiligt. Sie sind in einem europäischen Dachverband organisiert, der Groupe Consultatif Actuariel Européen, und dieser hat sich – wie auch die Deutsche Aktuarvereinigung (DAV) – stets an dem öffentlichen Konsultationsprozess beteiligt. Dabei wurde aber auch schon sehr früh deutlich, dass verschiedene Interessengruppen die Beteiligung der Aktuare so gering wie möglich halten wollten – leider mit einem gewissen Erfolg. So sieht die Rahmenrichtlinie vor, dass die komplexeren internen Modelle gerade nicht von den Aktuaren entwickelt werden, sondern von den Risikomanagern, um nur ein Beispiel zu nennen.
Waren es also die Aktuare und die Groupe Consultatif, die sich am Ende die Komplexität der Modelle vorwerfen lassen müssen? Nein, sie haben deutlich darauf hingewiesen, dass sie das Standardmodell für zu kompliziert halten. Die Groupe Consultatif verfügt nur über sehr bescheidene Mittel und besteht aus Personen, die auch für Solvency II ausschließlich ehrenamtlich tätig sind. Da wirkt es schon sehr merkwürdig, wenn man dieser Organisation einen größeren Einfluss zutraut als etwa dem Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), dem europäischen Verband CEA oder den nationalen und europäischen politischen Institutionen – es sei denn, man braucht jemanden für den schwarzen Peter.
Ulrich Orbanz ist Aktuar bei Towers Watson und Mitglied des Vorstands der Deutschen Aktuarvereinigung. Der Text ist eine rein persönliche Meinungsäußerung.
Quelle: Financial Times Deutschland
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