Das „Gesamtkunstwerk“ Solvency II sorgt bei Versicherern für Frust undStillstand
Herbert Fromme , Berlin
Das Werk umfasst zwei dicke Aktenordner und liegt Finanzvorständen deutscher Versicherer schwer im Magen. Auf rund fünfeinhalb Kilogramm Papier haben die europäischen Versicherungsaufseher die Anforderungen an die „Quantitative Auswirkungsstudie 5“ für Solvency II festgehalten, nach der englischen Bezeichnung „Quantitative Impact Studies“, kurz QIS 5 genannt. „Wir erleben ein Frustloch“, klagt Brigitte Wallscheid, bei der kleinen Rheinland Versicherung in Neuss für die Umsetzung zuständig.
„Die Anforderungen verursachen einen Stillstand sämtlicher Arbeiten, die normalerweise Tagesgeschäft sind“, sagt Wallscheid. „Das geht so nicht.“ Thomas Flemming von der Mecklenburgischen Versicherung in Hannover springt ihr bei. „Das Modell ist zu komplex. Wir achten sehr auf Kontrolle, aber kommen überhaupt nicht dazu, das System zu verstehen.“
QIS 5 ist der vorläufig letzte Testlauf für die neuen Eigenkapitalregeln für Versicherer, im EU-Sprech Solvency II genannt. Hunderte von hoch qualifizierten Versicherungsmathematikern und Bilanzexperten der Gesellschaften füllen aktuelle Finanz- und Risikodaten in Excel-Sheets ein, rechnen und analysieren und melden die Daten den Versicherungsaufsehern der EU-Mitgliedsländer. Im Jahr 2011 will Brüssel dann auf dieser Grundlage die letzten Einzelheiten festlegen.
Ab 2013 sollen die Vorschriften gelten. Sie haben das Potenzial, den Versicherungsmarkt nicht nur in Deutschland grundlegend umzukrempeln. Dabei sollten sie eigentlich nur die Gesellschaften krisenfester machen.
Die Idee ist eigentlich simpel: Die Anforderungen der Regierungen an Kapitalausstattung, internes Risikomanagement und Berichtspflichten der Versicherer sind in den EU-Ländern sehr verschieden. Das will Brüssel vereinheitlichen. Dazu kommt: Spätestens seit der Aktienkrise in den Jahren 2001 bis 2003 wissen die Politiker, dass auch die Assekuranz krisenanfällig sein kann. Solvency II soll verhindern, dass Versicherer pleitegehen und Kunden oder Unfallopfer ohne Rente oder Entschädigung dastehen.
Das „Gesamtkunstwerk“, wie der zuständige EU-Spitzenbeamte Karel van Hulle es nennt, besteht aus drei Säulen: In der ersten legt die EU die Kapitalanforderungen für die Gesellschaften fest, in Säule zwei die Regeln für das interne Risikomanagement – zum Beispiel die Anforderungen an die Qualifikation der Vorstände – und in Säule drei die Berichtspflichten an die Aufsicht und die Öffentlichkeit.
Für die Säulen zwei und drei hat die Bundesregierung bereits den Boden bereitet und Rechtsverordnungen wie die Mindestanforderungen an das Risikomanagement erlassen, die schon gelten. Umstritten sind sie dennoch, denn Quartalsberichte können sich vor allem kleine Gesellschaften weder leisten noch vorstellen.
Hauptstreitpunkt aber ist die Säule eins – sie legt fest, wie viel Eigenmittel die Versicherer künftig benötigen. Das hängt einmal von der Schwere der übernommenen Versicherungsrisiken ab, die künftig ganz anders als bislang gemessen wird, zum Zweiten aber – und das ist gänzlich neu – von den Risiken, die in den Kapitalanlagen stecken.
Eine Folge: Nach den bisherigen Vorgaben benötigt ein Versicherer null Prozent bis vier Prozent Eigenkapital, sofern er das Geld der Kunden in Staatsanleihen der EU-Länder anlegt – selbst wenn sie von riskanten Hochschuldenstaaten wie Griechenland oder Irland ausgegeben werden. Für Aktien benötigt er 39 Prozent.
Bleibt die Vorschrift unverändert, wird das die Begeisterung für Aktien in der Assekuranz noch weiter reduzieren. „Die Frage ist doch, ob sich durch einheitliche Lösungen das zyklische Handeln der Versicherer noch erhöht“, sagt Thomas Krüger von der Versicherungsgruppe Hannover. „Der Umsetzungsaufwand für kleine und mittlere Unternehmen ist sehr hoch, vielleicht zu hoch“, sagt Krüger.
Wegen des Widerstands vor allem kleiner und mittelgroßer Versicherer denken auch die Aufseher um. „Vielleicht ist die Standardformel für die Berechnung des Solvenzkapitals wirklich zu komplex“, räumt Gabriel Bernardino ein, der dem europäischen Gremium der Versicherungsaufseher vorsteht. QIS 5 solle ausgewertet und womöglich vereinfacht werden.
Aber sowohl EU-Experte van Hulle als auch Oberaufseher Bernardino machen deutlich, dass nicht nur sie zur immer größeren Komplexität beigetragen haben – ein gerüttelt Maß der Änderungen geht auf Wünsche vor allem der großen Versicherer zurück. Deren Vormacht werde gestärkt, fürchten kleine Gesellschaften. Sie haben recht: Solvency II könnte zu einer deutlichen Marktbereinigung führen. Unrecht wäre das den großen Anbietern nicht.
Quelle: Financial Times Deutschland
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