Weil sich zu wenige junge Leute für Werkstofftechnik begeistern, gehen dieFachkräfte aus. Das Interesse soll nun schon im Kindergarten und in der Schulegeweckt werden
Der langjährige Vorstandsvorsitzende des Essener Stahlriesen ThyssenKrupp, Ekkehard Schulz, musste während seines Studiums am eigenen Leib erfahren, was es heißt, ein Exot zu sein. Während andere Studenten Herbert Marcuse und andere geisteswissenschaftliche Klassiker lasen, untersuchte der angehende Ingenieur für Metallurgie und Werkstoffwissenschaften den Kristallisationsverlauf einphasig erstarrender Legierungen. Sein Studium an der Technischen Universität (TU) Clausthal liegt zwar mehr als 40 Jahre zurück, aber am Status der Studenten von Werkstoff- und Materialtechnik hat sich bis heute wenig geändert – sie gelten weithin als Sonderlinge.
„Werkstofftechnik hat keinen Sexappeal“, sagt Mario Bernards, Marketingleiter von Chempark; mehr als 70 Firmen aus der Chemiebranche sitzen in den Industrieparks in Leverkusen, Dormagen und Krefeld-Uerdingen, rund ein Drittel der gesamten Chemieproduktion von NRW findet hier im Umfeld des Giganten Bayer statt. Die Branche boomt. Dennoch hat Bernards Sorgenfalten auf der Stirn, wenn er über die Zukunft der Unternehmen nachdenkt: „Die Fachkräfte gehen uns aus.“
Experten warnen seit geraumer Zeit vor einer Ingenieurslücke. Seit Jahren haben werkstofftechnische Studiengänge mit Anfängerzahlen zu kämpfen, die an der Ein-Prozent-Marke kratzen. Der Fachkräftemangel macht sich längst bemerkbar. Unternehmen liefern sich einen intensiven Konkurrenzkampf um die wenigen Spezialisten.
„Der Wettbewerb um die besten Köpfe wird immer härter“, sagt Harald Cremer vom Cluster Nano Mikro + Werkstoffe NRW (NMW). Das Netzwerk wurde 2009 gegründet, um Forschung und Industrie besser miteinander zu verknüpfen. Finanziert wird das 2,7-Mio.-Euro-Projekt mit Fördergeld des Landes NRW und EU-Mitteln.
Viel Geld hat das Land auch ins Projekt Zukunft durch Innovation gesteckt. In dessen Mittelpunkt stehen die sogenannten ZDI-Zentren, von denen es inzwischen landesweit 31 gibt. Sie sollen möglichst viele Jugendliche für naturwissenschaftlich-technische Fragestellungen begeistern. Das Angebotsspektrum reicht von Technikunterricht und Laborkursen bis hin zu Workshops an Hochschulen. Dabei soll das Interesse schon im Kindergartenalter geweckt werden – in Fortbildungen können Erzieherinnen lernen, wie sie mit Pipette und Trichter bereits die Drei- bis Vierjährigen technisch und naturwissenschaftlich am besten schulen.
Wie wichtig eine frühe Förderung ist, hat auch Walter Stein, Lehrer am Sankt-Michael-Gymnasium in Bad Münstereifel, erfahren. Dieses ist 2010 als beste deutsche Jugend-forscht-Schule ausgezeichnet worden. Jugend forscht ist der älteste und bekannteste Nachwuchswettbewerb in Deutschland. Seit mehr als 20 Jahren nehmen auch Schüler des Sankt-Michael-Gymnasiums am Wettstreit teil. Jeden Freitag Nachmittag forschen die Schülerteams in ihrer Freizeit an naturwissenschaftlichen und technischen Phänomenen. Kürzlich haben die Nachwuchsforscher unter anderem ein Herstellungsverfahren für Graphenflakes entwickelt. Graphen gilt als neuer Wunderwerkstoff und wird bei der Produktion von Computerchips und Displays eingesetzt.
Das Tüfteln an den Stoffen der Zukunft ist mit viel Arbeit für die Schüler verbunden, aber die Mühen lohnen sich offenbar. „Nachher wissen sie, was sie werden wollen“, sagt Lehrer Stein. Viele ehemalige Schüler und Schülerinnen studieren an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen oder an anderen technischen Universitäten. Kreatives Forschen sollte nach Ansicht von Stein in den Unterricht einer Ganztagsschule integriert sein. Bislang tüfteln Lehrer und Schüler vor allem in ihrer Freizeit.
Auch Wolfgang Paczenski, Sprecher des Netzwerks Innovative Werkstoffe Rheinland, beklagt mangelnde politische Unterstützung. „Es gibt kaum geeignete Lehrkräfte in dem Bereich“, sagt er. Mit Schrecken berichtet der Leverkusener von Erlebnissen beim Besuch eines Gymnasiums: „Keiner der Oberstufenschüler konnte mir dort sagen, was ein Werkstoff ist.“ Um diesen Missstand zu beheben, hat Paczenski es sich zur Aufgabe gemacht, Unternehmen für ein aktives Engagement an Schulen zu begeistern. Sein Arbeitgeber, Chempark-Betreiber Currenta, bietet Fortbildungskurse für Lehrer an: „Um Schulen zu zeigen, was in der Wirklichkeit passiert.“
Quelle: Financial Times Deutschland
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