Die zunehmende Privatisierung der Sozialsysteme hat für Unternehmer eine Kehrseite: Auf sie könnte bald eine Welle von Schadensersatzklagen zurollen. Doch Deutschlands Manager verschließen die Augen. Von HERBERT FROMME
Das zweijährige Kind spielt mit dem Aktenvernichter. Die Finger sind klein genug, um in den Einzugsschlitz zu gelangen und die Lichtschranke zu unterbrechen. Daraufhin setzen sich die Messer des Reißwolfs in Bewegung und fügen dem Kind schwere Verletzungen zu.
Bald darauf beschäftigt sich der Bundesgerichtshof mit dem Fall. Obwohl die Aufsichtspersonen des Kindes die Gefahren des Aktenvernichters kannten, verurteilen die Richter den Hersteller zu Schadensersatz – weil er nicht durch ein Piktogramm vor den Gefahren für Kindergewarnt hatte. Zum ersten Mal verurteilt das höchste deutsche Gericht damit einen Hersteller dazu, seine Kunden vor eigenen vermeidbaren Fehlern zu schützen. Bis dahin galt der Grundsatz, dass nur dann zu warnen ist, wenn der Nutzer eine Gefahr nicht kennt oder überblickt.
Das vor zwei Jahren gefällte Urteil war ein Meilenstein bei der Verschärfung des Haftungsrechts in Deutschland. Trotzdem haben die meisten Unternehmer bis heute kaum eine Vorstellung, was der Fall für sie bedeutet – was sich spätestens jetzt rächen dürfte, denn die Deutschen werden bald sehr viel mehr Grund zum Klagen haben.
Millionenklagen wie in den USA drohen Um zu ahnen, was auf die deutschen Unternehmen zukommen könnte, reicht ein Blick über den Atlantik. Dort sind die Prozesse krebskranker Raucher gegen die Tabakindustrie nur die Spitze des Eisbergs. Ob American Home Products, das sich mit fünf Klägern auf 150 Mio. $ wegen Schäden durch den Diätwirkstoff Flenfuramin vergleicht, ob Chrysler, das zu 260 Mio. $ in einem – noch nicht rechtskräftigen – Urteil verdonnert wird, weil die Tür eines Dodge nicht ausreichend gesichert gewesen sei: Die Produkthaftung in Amerika ist weitreichend und teuer.
Bislang war dies in Europa anders. Zwar wurde auch auf dem Alten Kontinent bereits vor elf Jahren per EU-Richtlinie ein Produkthaftungsgesetz eingeführt. Doch die Welle von Millionenklagen blieb bislang aus.
Juristen begründen dies meist mit einigen rechtlichen Unterschieden zwischen den USA und Deutschland: die Erfolgsbeteiligung amerikanischer Anwälte, das Jury-System, der Strafcharakter von Schadensersatzzahlungen. All das stimmt, doch einer der wichtigsten Gründe ist politischer Natur: Die US-Haftungskultur hat eine starke Wurzel im anders ausgeprägten Sozialsystem. Krankenversicherung und gesetzliche Altersvorsorge sind in den USA nicht selbstverständlich und oft weit weniger umfassend.
Hat ein Amerikaner einen Unfall, stellt sich daher durchaus die Frage, ob das Opfer sich eine langwierige medizinische Behandlung leisten kann. Wird er gar berufsunfähig, muss er um seine Altersvorsorge fürchten. Deshalb sind amerikanische Juries relativ leicht dazu zu bewegen, den Klägern Millionensummen aus den „deep pockets“ der Konzerne zuzusprechen.
In Deutschland ist bislang dagegen klar, dass zunächst einmal die Krankenkasse zahlt und dass es auch bei Arbeitsunfähigkeit eine Grundsicherung gibt. Dieser Unterschied weicht nun aber mit der Deregulierung der Sozialsysteme und dem stärkeren Gewicht auf privater Vorsorge für das Alter und die unangenehmen Zwischenfälle des Lebens auf.
Gerade die faktische Abschaffung der Berufsunfähigkeitsrente in Deutschland wird bei Betroffenen den Druck erhöhen, im Schadensfall einen möglichen Schuldigen zu suchen und zu verklagen – zumal die EU-Kommission derzeit an einer Richtlinie zur Produktsicherheit bastelt, die zu einer weiteren Verschärfung der Haftung führen würde.
Überdies beschränkt sich die verschärfte Haftung der Unternehmen nicht auf Kunden. Ebenfalls aus den USA kommt der Trend zu hohen Ansprüchen der eigenen Beschäftigten.
Coca-Cola stimmte vor acht Monaten einem Vergleich zu und zahlt 192,5 Mio. $ an afro-amerikanische Beschäftigte, die das Unternehmenwegen Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe verklagten. Im Januar 2001 wurde Microsoft auf 5Mrd. $ Entschädigung verklagt, sieben afro-amerikanische Beschäftigte erhoben den Vorwurf der „Plantagen-Mentalität“. Mitsubishi musste 1997 an 500 Mitarbeiterinnen 34 Mio. $ wegen sexueller Belästigung zahlen, DaimlerChrysler zwei Jahre später 21 Mio. $. Pepsico wurde im selben Jahr zur Zahlung von 2,9 Mio. $ wegen „umgekehrter Diskriminierung“ verurteilt. Ein weißer Amerikaner sah sich bei einer Beförderung zugunsten eines afro-amerikanischen Kollegen übergangen.
EU verschärft die Haftung Amerikanische Unternehmen nehmen das Problem seit langem so ernst, dass sie sich mit EPLI, der „Employment Practices Liability Insurance“, vor Ansprüchen wegen Diskriminierung, sexueller Belästigung am Arbeitsplatz und rechtswidriger Kündigung schützen. „Wir haben seit Jahren eine Explosion von Employers-Practices-Klagen gegen Arbeitgeber“, stellt der Jurist Michael Thyssen von der Chubb-Versicherung fest, die unter anderem die EPLI-Deckungen anbietet.
In Deutschland sieht es da noch anders aus – noch. Bisher sind Schadensersatzzahlungen auf Grund von Diskriminierung und sexueller Belästigung eher gering, meistens werden Anwaltskosten und Verdienstausfall erstattet. Viele Fälle werden ohnehin durch die Einschaltung der Betriebsräte erledigt. Aber so bleiben muss das nicht: Die EU-Richtlinie zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen bezeichnet sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz nun ausdrücklich als Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Auch die Rechtslage in Deutschland ändert sich. Auf die Firmen kommt damit ein Problem zu, dass der Produkthaftung nicht nachsteht.
Für die Unternehmen wird damit ihre Haftung gegenüber Kunden und Mitarbeitern – wie auch in Umweltfragen – dramatisch zunehmen. Vorbereitet sind sie darauf nicht. Versicherungen nach US-Vorbild haben meist nur die Großen der Branche. Und auch diesenutzen nichts ohne ein ausgefeiltes „Risikomanagement“. Wer eine entsprechende Deckungabschließt, wird von den Spezialversicherungen im Schadensfall nur Geld sehen, wenn er alle rechtlichen Vorschriften peinlichst eingehalten und versucht hat, alle erdenklichen Risiken zu vermeiden.
Trotzdem sind Haftungsverschärfung und Risiko-Management für die meisten deutschen Unternehmen ein Fremdwort. Jurist Thyssen bringt auf den Punkt, was dies bedeutet: Deutschlands Manager gehen mit ihrer Sorglosigkeit „kaum kalkulierbare Risiken ein“.
E-Mail:
hf@hfromme.de.
Quelle: Financial Times Deutschland
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