Mit gestohlenen Kunstwerken der zweiten und dritten Garnitur lassen sich weltweit lukrative Geschäfte betreiben. Für weltberühmte Werke wie Edvard Munchs „Schrei“ gibt es allerdings meist nur einen Abnehmer: die bestohlenen Besitzer
Von Clemens Bomsdorf, Stockholm, Hauke Friederichs, Hamburg, und Herbert Fromme, Köln Sie wehren sich nicht, sie schreien nicht, sie haben weder Hunger noch Durst. Nie packen sie, nachdem das Lösegeld gezahlt ist, über die Verbrecher aus: Kunstwerke sind ideale Opfer für Entführungen.
„Artnapping“ nennt die Polizei solche Entführungen. Artnapper waren auch in Oslo aktiv, vermutet Walter Moser, Kunstfahnder im Bayerischen Landeskriminalamt (LKA). Zwei maskierte Männer waren am Sonntag vormittag ins Munch-Museum gestürmt, bedrohten eine Wärterin mit einer Waffe, rissen „Der Schrei“ und die „Madonna“ von den Haken und rannten mit den Bildern zum Fluchtauto.
Wie Kopfgeldjäger seien die Räuber vorgegangen, sagt der frühere Leiter für Kunstdelikte bei Scotland Yard, Charley Hill. „Sie stehlen Gemälde wie Trophäen, ohne zu wissen, was sie damit machen sollen.“ Der Museumsleitung rät er, kein Lösegeld zu zahlen. Unklar ist, ob Gunnar Sørensen, der Chef des Munch-Museums, diesen Rat folgen wird. Er wollte gestern keine Angaben dazu machen, ob das Museum auf die eventuelle Zahlung eines Lösegelds vorbereitet ist. Christian Klafstad, Sprecher der Stadt Oslo, sagt: „Sollte es zu einem Erpressungsversuch kommen, wissen wir nicht, wie wir reagieren werden.“
Die Summe müsste das Museum oder der Staat zahlen, denn beide Gemälde seien gegen Diebstahl nicht versichert gewesen, sagt John Öyaas von der zuständigen Versicherung. Es wäre zu teuer gewesen. Das bestätigt ein deutscher Experte: „Der Staat kann sich die Versicherungsprämien nicht leisten.“
Die geraubten Gemälde bleiben vorerst verschwunden. Wer hat sie? Jedenfalls wohl kein Millionär, der diese Werke nicht mit dem Rest der Welt teilen will. „Mir ist der berüchtigte pervertierte Sammler, der einen Bilderdiebstahl in Auftrag gibt, noch nie vorgekommen“, sagt Ulli Seegers vom Art Loss Register (ALR). Das Kölner Institut, das auch in New York, London, Paris und St. Petersburg präsent ist, spürt gestohlener Kunst nach. Dabei hat die Kunstdetektivin Seegers festgestellt, dass es den Dieben immer um Geld geht. Und dass sie Artnapping entdeckt haben als Möglichkeit, mit relativ wenig Risiko an dieses Geld zu kommen. Seegers: „Das Entführen von Kunst hat in den letzten fünf Jahren stark zugenommen.“
Um an Bares zu kommen, haben Ganoven kaum eine andere Möglichkeit als ihr Beute dem Besitzer anzubieten. „Hot art, cold cash“, bringt es Experte Charley Hill auf den Punkt. Er hat schon einmal einen „Schrei“ von Edvard Munch zurückgebracht: Der war 1994 in Oslo aus der Nationalgalerie gestohlen worden. Drei Monate später hing er wieder dort, Hill sei Dank.
Die am Sonntag geraubte Version von „Der Schrei“- vier hat Munch gemalt – wird auf einen Wert von 54 Mio. Euro geschätzt, ein paar Millionen Euro werden die Entführer voraussichtlich fordern. Und dann? Kann man entweder auf die Forderung eingehen oder nicht. Die Polizei empfiehlt: nein sagen . „Wir lehnen ab, Lösegeld für Kunst zu zahlen, weil dadurch die Gefahr größer wird“, sagt Walter Moser vom LKA Bayern. „Gestohlene Kunst zurückzukaufen spornt weitere Diebe an.“
„Die Versicherungen dürfen auf solche Forderungen nicht eingehen“, sagt auch Alexandra Smith, Operations Director des Londoner Art Loss Register. Das sei verboten. Das bestätigt Ulrich Guntram, Chef der Axa Art, weltweit einer der größten Kunstversicherer. „Wir dürfen kein Lösegeld zahlen, und wir zahlen es auch nicht.“
Deshalb wird das Geschäft gern so diskret wie möglich abgewickelt. Statt von Lösegeld wird von „Finderlohn“ gesprochen, verhandelt wird nicht mit Verbrechern, sondern mit „Mittelsmännern“. „Wir haben nie direkt Geld an Kriminelle gezahlt“, sagte beispielsweise Sandy Nairne von der Tate Gallery in London, nachdem zwei gestohlene Gemälde von William Turner wieder aufgetaucht waren. Ein paar Jahre und 3,5 Mio. £ kostete es, die beiden Bilder wiederzubeschaffen, einschließlich Anwaltskosten, den Ausgaben für Privatdetektive und Spesen.
Hauptsache, das Bild ist wieder da. Ob die Täter gefangen werden, interessiert die Museen erst in zweiter Linie – und das gilt auch für ihre Versicherer. „Wenn die Polizei die Täter schnappt, heißt es nicht automatisch, dass die Kunstwerke wieder auftauchen“, sagt Joachim Leuther vom Vorstand der Kunstversicherung Hiscox. Deshalb bleibt die Polizei oft außen vor. Vielleicht hat es mit diesen Stillhalteabkommen zu tun, dass laut Bundeskriminalamt nur jeder fünfte der international herausragenden Kunstdiebstähle aufgeklärt wird.
Als aufgeklärt empfinden die Museen den Fall, wenn das Bild wieder hängt. Je prominenter das entführte Kunstwerk ist, desto sicherer können sie sein, dass die Diebe sich melden. Die Kriminellen hätten ein Interesse daran, dass die Bilder unbeschädigt bleiben, sagt Ulli Seegers vom ALR, „da sie für beschädigte Werke weniger Geld bekommen“.
Das gilt nicht nur für Werke vom Kaliber Picasso, Miró, Chagall, Dalí oder Dürer, sondern für alle gestohlenen Kunstwerke. Ihre Zahl schätzt Interpol auf jährlich zwischen 45 000 und 60 000. Marienstatuen aus bayerischen Kirchen, antike Uhren aus monegassischen Villen, Ikonen aus Weißrussland. Deutschland ist laut Bundeskriminalamt (BKA) eine Drehscheibe des kriminellen Kunsthandels. Es habe „einen sehr hohen Stellenwert als Absatz- und Transitland“, vor allem für Diebesgut aus Osteuropa. In Deutschland selbst, schätzt das BKA, werden täglich rund sieben Kunstwerke gestohlen.
Und weiterverkauft. Obwohl die Schwarzmarktpreise nicht annähernd den realen Wert widerspiegeln, sondern laut einer Studie nur sieben Prozent davon, werden auf diesem Markt jährlich 4 bis 5 Mrd. $ umgesetzt, schätzt Seegers.
Die Ganoven profitieren vom laxen Sicherheitsverständnis vieler Museen und Sammler. „Es gibt Galerien, in denen erst nach Tagen bemerkt wurde, dass in einem Rahmen statt eines echten Renoirs eine gute Fotokopie hing“, sagt Axa-Art-Chef Ulrich Guntram. Ähnliche Erfahrungen hat Joachim Leuther vom Kunstversicherer Hiscox gesammelt: „Es ist einfacher, Kunst zu klauen als eine CD bei WOM.“
Das gilt auch für Norwegen. „Wir haben unsere Kunstschätze nicht gut genug gesichert. Daraus müssen wir lernen“, sagt Kultusministerin Valgerd Svarstad nach dem Raub der beiden Munch-Gemälde. Mit fast denselben Worten hatte 1994 ihre Vorgängerin Ase Klevelands reagiert, als damals die „Schrei“-Version aus dem Osloer Nationalmuseum gestohlen worden war. Getan hat sich seither nicht viel. Das hat weniger mit Naivität zu tun als mit einem „Balanceakt zwischen Sicherheit und Zugänglichkeit fürs Publikum“, sagt Sune Nordgren, der Direktor des neuen Nationalmuseums in Oslo. „Wir wollen nicht, dass ein Museumsbesuch zu einer Sicherheitskontrolle wie auf einem Flugplatz verkommt.“
Sollten die Kontrollen zu lasche sein, besteht ja weiterhin die Chance, die Werke zurückzubekommen. Und je weniger Abnehmer die Diebe haben, desto eher gleichen die Lösegeldverhandlungen einem Pokerspiel, bei dem derjenige verliert, dem zuerst die Nerven versagen. Alfred Beit hat vor ein paar Jahren hervorragend gepokert. Als dem Diamantenerben aus seinem irischen Landsitz ein Vermeer und 16 andere alte Meister gestohlen wurden, forderten die Diebe ein Lösegeld „oder wir verbrennen das Zeug“. Beit blieb cool: „Dann verbrennt es.“ Er bekam seine Bilder zurück. Ohne Lösegeld.
Solche Geschichten machen Mut, auch Ulli Seegers. Die Kunstdetektivin sagt: „Ich bin mir sicher, dass die Munch-Meisterwerke wieder auftauchen.“
Bild(er):
Und weg ist es: Ob Expressionisten oder alte Meister – Kunstdiebe nutzen das laxe Sicherheitsverständnis von Museen und Galerien, um Gemälde zu stehlen. Selbst weltberühmte Werke sind nicht sicher vor „Artnapping“ – zefa/masterfile/Greg Stott ; Munch-Museum/Scanpix; Picture-Plliance/AKG-Images; Picture-Alliance/dpa/dpaweb (2); AKG-images/Erich Lessing
Quelle: Financial Times Deutschland
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