Die US-Regierung hat den wankenden Finanzkonzern AIG gerettet – und doch ister untergegangen. Der Versicherungsgigant wird nie mehr zur alten Größezurückfinden. Über die letzten Stunden eines Imperiums
Von Sebastian Bräuer, New York,
und Herbert Fromme, Köln
Emsig verteilen die Angestellten Flugblätter mit der frohen Botschaft. Der Versicherer AIG ist gerettet, Amerikas Regierung ihm zur Seite gesprungen! Doch es nützt nichts, die Kunden glauben nicht mehr daran, haben das Vertrauen verloren. Immer länger wird die Schlange vor der Dependance in Singapur, bald sind es Hunderte Menschen, Männer und Frauen, meist um die 50 und seit vielen Jahren Kunden des Versicherers.
Ihre Gesichter sind voller Sorgen, ihre Hände voller Policen. Schnell noch wollen sie diese zu Geld machen. Wer weiß, wie lange es AIG noch gibt? „Können Sie mir garantieren, dass mein Geld sicher ist?“, fragt ein Wartender ängstlich.
Wer kann das schon in diesen Tagen. Sicher, erst mal ist die Freude groß: AIG ist gerettet. Die US-Regierung gibt der Versicherung einen Notkredit, nimmt sie unter ihren persönlichen Schutz. 116 000 Mitarbeiter und Millionen Kunden atmen auf. „Ich bin froh, dass wir endlich zurückgehen können und das machen, was wir am besten können: Versicherungen verkaufen“, sagt ein Mitarbeiter.
Doch was ist eigentlich passiert? Gerettet und untergegangen zugleich scheint AIG, der Gigant, das römische Imperium der Versicherungsbranche. 110 Mrd. $ Umsatz im vergangenen Jahr, 6,2 Mrd. $ Gewinn. Während bei manchem Analysten, Mitarbeiter und Börsenhändler kurzzeitig Jubel aufflackert, ziehen Eingeweihte bereits ein anderes Fazit: Die Aktion sei eine „kontrollierte Sprengung“.
Kontrolle, das schien in diesen Tagen wichtig. In Zeiten, in denen Milliarden mal gewährt, mal nicht gewährt werden. 200 Mrd. $ für Fannie Mae und Freddie Mac. 300 Mrd. $ für den Hypothekenversicherer Federal Housing Administration. 29 Mrd. $ als Finanzierung für JP Morgans Übernahme von Bear Stearns. Für Lehman Brothers: gab es nix. Wenige Stunden später, nach kurzem Wanken und Zittern: 85 Mrd. $ für AIG. Verstaatlichung, 80 Prozent der Anteile, der Chef Robert Willumstad muss gehen.
Es sind Untergänge am Fließband, die hier bewältigt werden. Keine Zeit für ordnungspolitische Grundsatzdebatten. „Ein ordnungspolitischer Sündenfall, aber unumgänglich“, sagt BHF-Chefvolkswirt Uwe Angenendt. Ohne Frage: Willkür ist hier nicht am Werk.
AIG war einfach zu groß, um unterzugehen. AIG sei systemisch wichtiger gewesen als Lehman Brothers, heißt es. Und auch der Überraschungseffekt ist größer. Es geht auch um Psychologie, nicht um Prinzipien.
Der Staat also: mal wieder der Retter. Keine perfekte Lösung für den Konzern. Aber bestimmt besser als der zweite Heilsbringer, der sich noch am Dienstag ins Gespräch brachte: Maurice „Hank“ Greenberg, Hauptaktionär und früherer Chef des Unternehmens, der seinen Rauswurf bei AIG nie verwunden hat.
„Dear Bob“, schreibt er in einem offenen Brief an Robert Willumstad. Beklagt sich, dass er seit zwei Wochen auf einen Termin mit dem Vorstand und Aufsichtsrat dringt. „Diese Anfragen wurden leider ignoriert.“ Stichelt gegen das Management, dass „trotz aller Versicherungen von Management und Aufsichtsrat, dass alles unter Kontrolle ist, jetzt klar ist, dass gar nichts unter Kontrolle war“. Und er hofft: „Ich weiß nicht, ob es zu spät ist, AIG zu retten. Aber wir sind es den Aktionären, den Gläubigern und unserem Land schuldig, es zu versuchen.“
Greenberg. Ausgerechnet Greenberg. Die Legende, die AIG groß gemacht hat, ja AIG war. 38 Jahre hat er den Versicherer geführt, steif und streng. An der Wall Street wird er mit Jack Welch und Warren Buffett in einem Atemzug genannt. 1962 hat er das Geschäft von Cornelius Vander Starr übernommen, der 1919 AIG in Schanghai gegründet hatte. Starr war der Erste, der im großen Stil Versicherungen an Chinesen verkaufte. Das Geschäft lief so gut, dass er um den Globus expandierte: nach Europa, Südamerika, in den Nahen Osten – und die USA. Doch erst unter Greenberg verabschiedete sich AIG vom reinen Privatkundengeschäft, konzentrierte sich auf Versicherungen von Unternehmen, etwa Haftpflichtversicherungen für Topmanager.
Die Margen wuchsen und wuchsen, bald arbeiteten Zehntausende Mitarbeiter in mehr als 100 Ländern. Nichts und niemand schien AIG etwas anhaben zu können.
Doch dann kam New Yorks Generalstaatsanwalt Eliot Spitzer und deckte einen Skandal auf: Als zur Jahrtausendwende das Geschäft abflaute, hatte Greenberg die Lage verschleiert und den Kurs mithilfe komplexer Transaktionen gestützt. AIG musste später 1,64 Mrd. $ Strafe und Schadensersatz zahlen. Greenberg musste gehen.
Damals ahnte noch keiner, dass die Bilanztricks nicht Greenspans schlimmster Fehler sein sollten. Unter ihm wurde begonnen, was nun den Versicherer fast in den Ruin getrieben hat: Er verkaufte Hypotheken-Ausfallversicherungen, wagte also riskante Wetten auf Hypothekendarlehen.
Greenbergs Nachfolger Martin Sullivan beendete dieses Geschäft zwar 2005. Doch die Risiken blieben im Bestand – und vertrieben mehr und mehr die Anleger.
Sullivan sollte nach dem Abgang des Übervaters aufräumen. Er wirkte jung, frisch, wie ein „Anti-Greenberg“. Doch er wurde kein Aufräumer. Sullivan, seit Teenagerzeiten bei AIG, war unter Greenberg groß geworden – und scheute den Bruch.
Bald fragten sich die Beobachter, welche Strategie er denn verfolge, in seinem „Corner Office“ im 18. Stock des AIG-Turms, in dem Büro mit den schweren, dunklen Edelholzmöbeln. Im Juni dieses Jahres musste auch er gehen, ihm folgte Robert Willumstad, der gestern seinen Posten räumte.
Am Tag eins unter Staatsschutz ist die Freude erst mal groß. Bei AIG in Europa wird Optimismus verordnet. „Das ist doch viel besser, als wenn da irgendeine Bank mit Geld reinkommt und uns dauernd reinredet“, macht sich ein Manager Mut. „Wir legen jetzt richtig los. Etwas Besseres als Regierungsunterstützung gibt es doch gar nicht.“ Möglicherweise müsse AIG einige Töchter verkaufen. „Aber wir dürfen sie ja auch wieder zurückkaufen.“ Könnten die Kunden es nicht merkwürdig finden, plötzlich mit ihren Risiken beim amerikanischen Staat versichert zu sein? „Es gibt schlechtere Adressen“, findet der Manager.
Auch die Kunden und Makler sind zunächst erleichtert. Es wäre schwer gewesen, AIG in den komplexen Industrieversicherungsverträgen zu ersetzen – schließlich decken große Konsortien aus mehreren Gesellschaften hohe Risiken ab. Die Makler verweisen auf das immer noch gute Rating der AIG-Gesellschaften – trotz der jüngsten Herabstufung. Deshalb gibt es bei ihnen keine Anweisung, Kunden einen Wechsel des Versicherers nahezulegen.
Die Einkäufer geben sich da vorsichtiger – viele wollen selbst fertig ausgehandelte Verträge, die zum Januar 2009 in Kraft treten, liegen lassen und nicht unterschreiben. Gestern wurden zahlreiche Versicherungseinkäufer von ihren Finanzvorständen zum Report bestellt. Viele Vorstände haben ein persönliches Interesse an der Frage, wie gut ihre AIG-Deckung noch ist – denn der US-Konzern ist einer der größten Anbieter von Managerhaftpflichtpolicen. Die Mehrzahl der Vorstände und Aufsichtsräte der Dax-Konzerne dürfte über AIG gegen dieses Risiko abgedeckt sein.
Die Freude der Mitarbeiter ist also verfrüht. In der Branche sind fast alle von der Maßnahme der Regierung überrascht worden. Am Nachmittag verfliegt die Erleichterung, viele Stimmen werden nachdenklich. „Ich glaube nicht, dass AIG einfach so weitermachen kann wie bisher“, sagt ein Branchenkenner. „Das ist eine verzögerte kontrollierte Abwicklung statt einer unkontrollierten Pleite – aber die wird nicht einmal die zwei Jahre dauern, die AIG von der US-Regierung bekommen hat.“
In der Branche wird nicht damit gerechnet, dass AIG seine frühere Stärke je wieder erreicht. „In sechs Monaten sind die zerlegt“, sagt der Vorstand eines Konkurrenten. Tatsächlich spricht viel dafür, dass die neue Führung bald Filetstücke des Unternehmens verkaufen wird. Dabei könnte ein neuer Industrieversicherer entstehen, der mit dem alten Konglomerat, der guten alten AIG nichts mehr zu tun hat.
Das wird nicht zuletzt den großen Greenberg schmerzen, den Beobachter als arroganten, völlig verbitterten Mann beschreiben. Im letzten Abschnitt seinen Briefes an Bob Willumstad wird er noch mal deutlich: „Seit Sie den Vorstandsvorsitz übernommen haben, präsidieren Sie und der Aufsichtsrat über die virtuelle Vernichtung des Börsenwerts, der in 35 Jahren aufgebaut wurde.“
Nein, anschwärzen wolle er niemanden. „Es geht mir nur um die Feststellung, dass ich wirklich perplex bin, dass Sie und der Aufsichtsrat meine Hilfe nicht akzeptieren wollen.“ Er kam zu spät.
www.ftd.de/Assekuranz AIG flüchtet in Staatsschutz
Quelle: Financial Times Deutschland
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