Die Branche und die EU streiten heftig über die künftigenEigenkapitalvorschriften. Die neuen Regeln sollen Zahlungsausfälle verhindern,schießen dabei aber über das Ziel hinaus Von Herbert Fromme
Eigentlich ist alles ganz einfach. Regierungen und EU-Kommission wollen verhindern, dass Versicherer pleitegehen. Denn das würde deren Kunden die Zahlung nach einem Unfall oder Feuer, die Altersvorsorge oder den Krankenversicherungsschutz kosten. Außerdem will die EU den Binnenmarkt harmonisieren, die nationalen Regeln werden abgeschafft.
Das Regelwerk zur Erreichung dieses guten Zwecks heißt Solvency II. Mit dieser Richtlinie vereinheitlicht Brüssel die Kapitalausstattung der Versicherer und die Aufsicht über sie. Die konkrete Umsetzung will sie 2011 beschließen. Der letzte Praxistest beginnt in wenigen Wochen und soll Ende des Jahres abgeschlossen werden. Versicherer füttern die Modelle mit ihren Zahlen und melden den Versicherungsaufsehern, was herauskommt. Die schreiben dann eine Empfehlung für die Kommission. Es ist die fünfte „Quantitative Auswirkungsstudie“ oder Quantitative Impact Study (QIS).
Bizarre Regeln bei Aktienanlagen
Ein Versicherer kann auf zwei Wegen in die Pleite geraten: Er erleidet einen Großschaden, und er hat nicht genügend Reserven, um zu zahlen. Oder er hat hohe Reserven, sie aber so riskant angelegt, dass sie durch einen Crash am Kapitalmarkt stark entwertet werden. Dann hat er ebenfalls nicht genügend Mittel, um die Forderungen der Kunden und Geschädigten, die im Falle von Privatrenten oder Unfallopfern oft über Jahrzehnte gezahlt werden müssen, zu befriedigen.
Deshalb, so die Überlegung bei EU und Aufsichtsämtern, muss das neue Eigenkapitalregime nicht nur die Versicherungsrisiken einbeziehen, sondern auch die Risiken aus Kapitalanlagen. Wer riskant in Aktien anlegt, braucht mehr Eigenkapital als der Konkurrent, der auf Bundesanleihen setzt. Doch es steht nicht gut um das Projekt. Noch nie waren Versicherungsaufseher und die Branche selbst so zerstritten in der Angelegenheit. Dazu tragen bizarre Regeln bei. So müssen Versicherer, die in Aktien anlegen, zusätzlich zur investierten Summe 40 Prozent Eigenkapital vorhalten. Für EU-Staatsanleihen, auch die von Griechenland, brauchen sie nur zwischen null und vier Prozent.
Dahinter steckt ein grundlegendes Dilemma. Jedes Risikomodell kann im Kern nur auf Erfahrungen der Vergangenheit beruhen. Und vor wenigen Monaten noch galt es als gesunder Menschenverstand, Staatsanleihen einschließlich der griechischen für sicherer zu halten als Aktien.
Solvency II wurde auf Grund der Aktienkrise 2001 bis 2002 entwickelt, kam aber 2009 in die entscheidende Phase. Da war schon die neue Krise von 2008, die mit der Lehman-Pleite einen ersten Höhepunkt fand, frisch in den Köpfen von Politikern und Aufsehern. Um die Versicherungskunden auf jeden Fall vor der Zahlungsunfähigkeit einer Gesellschaft zu schützen, überfrachteten die Aufseher das System seit 2008 mit einer Kapitalanforderung nach der anderen. Die Folge: Versicherer müssen fürchten, Milliarden an frischem Geld zu benötigen. Mancher Branchenmanager leistete sich in Anhörungen der EU-Kommission regelrechte Zornesausbrüche.
Dabei ist die Versicherungsbranche keineswegs unschuldig an dem Wirrwarr. Große Gesellschaften wie Allianz und Munich Re haben Solvency II stets gefördert. Die Allianz hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie sich auch eine Konsolidierung des Marktes davon versprach – nach dem Motto: Wir sind schon stark genug, einige kleinere wird es raffen, da können wir unseren Marktanteil ausbauen. Doch mit der jetzigen Ausgestaltung ist auch der größte Versicherer Europas nicht einverstanden.
Munich Re hat ein wenig zu oft betont, dass Solvency II den Rückversicherern mehr Geschäft bringen sollte. Das macht das System bei den Erstversicherern auch nicht populärer – sie glauben, dass die Großen das System nur aus eigenen Geschäftsinteressen so forciert haben.
Vorstände verstehen die Berechnung nicht
Der größte Fehler: Die Branche hat zugelassen, dass Solvency II zur Spielwiese der Versicherungsmathematiker wurde. Die haben das System so komplex gemacht, dass inzwischen die meisten Vorstände hinter vorgehaltener Hand zugeben, es nicht mehr zu verstehen. Ja, aber wie sollen sie denn dann ihre Unternehmen entsprechend steuern? Und wie sollen Anleger und Kunden verstehen, ob ein Versicherer gut dasteht oder nicht, wenn es nicht einmal dessen Vorstände wissen?
Kein Wunder, dass die Assekuranzaktien seit Monaten deutlich schlechter verlaufen als der Rest des Marktes. Anleger fürchten nicht die Nähe zu den Banken, wie manche Versicherer glauben, sondern hohe Eigenkapitalanforderungen durch Solvency II und die eingebaute Volatilität der Branche.
Augen zu und durch ist keine Lösung. Solvency II muss radikal entschlackt werden, auch wenn das zwei Jahre länger dauert. Aufseher sollten aufhören zu glauben, sie könnten die Versicherer durch die dicke Kapitaldecke vollständig insolvenzsicher machen. Es muss auch mal ein Versicherer pleitegehen dürfen. Die Finanzwelt hat Schlimmeres gesehen.
E-Mail fromme.herbert@guj.de
Quelle: Financial Times Deutschland
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