Im Markt für Betriebsunterbrechungen ohne vorherigen Sachschaden bewegt sichetwas. Die Industrie reagiert jedoch zurückhaltend
Als der Säuretanker Waldhof Anfang des Jahres auf dem Rhein verunglückte und der Fluss zeitweise gesperrt werden musste, konnte noch niemand die Auswirkungen auf Schifffahrt und Industrie erahnen. Der Chemieriese BASF hatte mit Verspätungen bei der Lieferung von wichtigen Produkten zu kämpfen. Auch der Motorenhersteller MAN Diesel & Turbo musste tagelang warten. Die großen Schiffsmotoren waren zu schwer, um sie von Heilbronn zum Rotterdamer Hafen per Spezial-Lkw auf dem Landweg zu transportieren.
Es dauerte fast vier Wochen, bis der Wasserweg wieder für Schiffe freigegeben war. Die meisten betroffenen Unternehmen blieben auf den Verlusten sitzen, denn Versicherer kommen nur für Schäden auf, wenn die Betriebsunterbrechung durch Feuer, Überschwemmung oder Stürme verursacht wird. Verhindert ein havariertes Schiff den Gütertransport auf dem Wasser oder politische Aufstände legen die Produktion von Waren lahm, greift eine herkömmliche Betriebsunterbrechungspolice nicht.
Der Tsunami im März in Japan war ein weiteres dramatisches Ereignis, das die Aufmerksamkeit großer Firmen auf ihre Lieferkettenrisiken lenkte. Viele Gesellschaften waren von der Katastrophe indirekt betroffen, weil Zulieferer in anderen Teilen der Welt auf Produkte aus Japan warten mussten und ebenfalls nicht produzieren konnten. Damit hatten die wenigsten gerechnet.
„Lieferkettenrisiken wurden in der Vergangenheit völlig unterbewertet“, sagt Stefan Nill, Geschäftsführer beim Dortmunder Makler Leue & Nill. „Auch große Firmen, die ein ausreichendes Risikomanagement eingerichtet haben, sind betroffen gewesen.“ Große und kleine Firmen kennen ihre Lieferkettenrisiken nur unzureichend und wissen nicht, wie schwer sie eine Unterbrechung betreffen würde, sagt er.
Die Industrie fordert schon lange Deckungen für Betriebsunterbrechungen ohne vorherigen Sachschaden. Ob Erdbeben und Tsunami, Tankerhavarie oder Vulkanasche, die den Flugverkehr für Tage lahmlegt – Unternehmen hatten in der vergangenen Zeit häufiger mit Ereignissen zu kämpfen, die ein Loch in die Lieferkette gerissen haben.
Ihre Versicherungseinkäufer kritisieren, dass die Assekuranz nur zögerlich bereit zu innovativen Deckungskonzepten sei und die Kunden im Ernstfall im Regen stehen lasse. „Die langsame Entwicklung liegt auch an ängstlichen Underwritern“, sagt Hanns Martin Schindewolf, Chef von Daimler Insurance Services, mit Blick auf die Risikobewerter der Versicherer. Oftmals seien zu viele Leute an der Produktentwicklung beteiligt, die Angst davor haben, etwas falsch zu machen. „Da braucht man als Versicherer aber eben Augenmaß und unternehmerischen Mut, wenn man etwas Neues entwickeln will“, sagt er.
Doch es bewegt sich etwas im Markt. Einige Anbieter haben sich mit neuen Spezialpolicen vorgewagt. Die Zurich ist im Ausland schon seit eineinhalb Jahren mit einer Deckung dabei, seit Mitte des Jahres sind auch die Bedingungen für den deutschen Markt fertig. Abgeschlossen hat aber noch kein Unternehmen einen Vertrag. Andere Wettbewerber versuchen, sich auf einzelne Segmente zu spezialisieren. Makler Willis setzt auf mittelständische Kfz-Zulieferer. Ace deckt vor allem Luftfahrtrisiken. Und HDI-Gerling hat seit Kurzem eine Deckung im Angebot, mit der sich Energie- und Bauunternehmen und die Tourismusindustrie ohne Derivate gegen schlechtes Wetter absichern können.
Ab Januar 2012 will auch die Allianz Werkstillstände ohne vorherigen Sachschaden versichern. „Wir haben unser Konzept mit ausgewählten Großkunden besprochen“, sagt Wolfgang Faden, Chef für Deutschland und Zentraleuropa bei der Allianz Global Corporate & Specialty. Wegen der Kumulrisiken sei jedoch eine spezielle Rückversicherungslösung nötig. „Der Rückversicherungsmarkt hält sich hier jedoch noch deutlich zurück.“
Die Skepsis bleibt Die Industrie reagiert auf die neuen Angebote positiv, aber zurückhaltend. „Ich begrüße es, dass die Versicherungswirtschaft auf unsere Bedürfnisse reagiert“, sagt Mathieas Kohl, Risikomanager beim Sicherheits- und Medizintechnikhersteller Dräger in Lübeck. Das Problem sei, dass viele Versicherer noch nicht ausreichend Underwriting-Erfahrung in diesem Bereich haben. „Deswegen sind die Prämien für die Policen immer noch zu hoch im Vergleich zur Versicherungssumme.“
Auch Schindewolf von Daimler Insurance Services, der die Produktinitiative der Anbieter unterstützt, äußert sich skeptisch. „Es wird noch eine Weile dauern, bis die Anbieter ein nachhaltiges Konzept auf den Markt bringen werden“, sagt er. Einer der Hauptkritikpunkte der Industrie: „Die Versicherer haben unrealistische Vorstellungen von Transparenz, die für große Konzerne oft schwierig zu leisten sind“, sagt Schindewolf. Unternehmen, die aus verschiedenen Teilen der Welt Produkte beziehen und liefern, haben häufig so viele unterschiedliche Zuliefererebenen, dass sie sie gar nicht alle gleichzeitig überschauen können. „Den Versicherer alle drei Monate über einen neuen Lieferanten, ein neues Risiko oder neue Kunden zu informieren, ist für ein Unternehmen wie unseres nicht leistbar“, sagt er. Zudem legt er Wert auf ein gewisses Maß an Datenschutz. „Ich will als Unternehmen vielleicht auch gar nicht immer, dass der Versicherer alle Details über meine Lieferanten weiß“, sagt der Versicherungseinkäufer.
Die Assekuranz glaubt, dass es an etwas ganz anderem liegt, warum die Industrie mit dem Abschluss einer Deckung zögert. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Versicherungseinkäufer nicht nach den Policen fragen, weil ihr Unternehmen wirklich so eine Deckung kaufen möchte“, sagt August Pröbstl von der Munich Re. Sie sehen es wohl eher als eine Art Hausaufgabe an, um ihren Finanzvorständen berichten zu können, dass das Risiko unversicherbar sei, sagt er.
Sabine Krummenerl, Vorstandsmitglied bei der Provinzial Rheinland, teilt diese Beobachtung: Der theoretische Bedarf, den Risikomanager in Meetings und der Presse äußern, scheint hoch zu sein, sagt sie. Der praktische Bedarf sei jedoch relativ gering. „Keiner unserer Kunden, mit denen wir über die Policen gesprochen haben, wollte ein verbindliches Angebot haben“, berichtet Krummenerl.
Anne-Christin Gröger
Quelle: Financial Times Deutschland
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