Kurz vor Jahreswechsel werben die deutschen Lebensversicherer verstärkt um Kunden. Ein geringerer Garantiezins und die drohende Besteuerung von Erträgen aus neuen Policen schüren in der Branche die Angst vor sinkenden Prämieneinnahmen – der Druck auf die Anbieter wächst

Von Herbert Fromme, Köln Die Hannoversche Lebensversicherung lässt keinen Zweifel daran, dass es Zeit wird zu handeln: „Rechnungszins sinkt ab dem 1. Januar 2004 – Jetzt 3,25 Prozent sichern!“, wirbt das Unternehmen in Anzeigen und Beiheftern. Wer noch keine Lebensversicherung abgeschlossen hat, so die platte Botschaft, soll möglichst sofort die Unterschrift unter eine Police setzen. Andere Assekuranz-Konzerne wie die Allianz buhlen mit ähnlichen Slogans um neue Kunden.

In der Branche herrscht Schlussverkaufs-Stimmung. Weil die Regierung den Garantiezins für Lebensversicherungen zum Jahreswechsel auf magere 2,75 Prozent absenkt, fürchten die Konzerne, dass ihnen bald die Argumente für der Deutschen liebstes Altersvorsorgeprodukt ausgehen. Seit dem Zusammenbruch der Mannheimer Leben im Sommer ist das Vertrauen der Bürger in die Branche ohnehin angeknackst. Und für 2005 droht Berlin an, die Steuerfreiheit für Erträge aus Neuverträgen abzuschaffen. Der Kapitallebensversicherung droht das Aus.

Noch geben sich die Chefs der großen Assekuranz-Firmen optimistisch: „Die Kunden vertrauen der Lebensversicherungswirtschaft weiterhin“, beharrt Gerhard Rupprecht, Chef des Marktführers Allianz Leben. Tatsächlich nahmen die Lebensversicherer im laufenden Jahr 67 Mrd. Euro ein – 3,5 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Vertreter verkauften 10,2 Millionen neue Verträge. Insgesamt halten die Deutschen 91 Millionen Policen.

Das Börsendebakel wirkt nach

Doch der Boom könnte sich als Strohfeuer erweisen, das die klamme Branche nur kurzfristig wärmt. Der Druck, neue Einnahmen zu generieren, ist gewaltig. Das Debakel an den Aktienmärkten hat die Branche noch lange nicht überwunden. In den vergangenen drei Jahren haben die Lebensversicherer gut 100 Mrd. Euro an der Börse verloren. Und längst nicht alle Verluste sind in den Bilanzen verdaut: Anfang 2003 standen 16 Mrd. Euro an so genannten stillen Lasten in den Büchern. Seit Jahresbeginn sind die Kurse zwar um ein Drittel geklettert. Doch selbst dieser Anstieg reicht nicht aus, die Verluste auszugleichen. Die Versicherer werden stille Lasten in Milliardenhöhe ins neue Jahr mitnehmen.

Der Kapitalbedarf vieler Gesellschaften ist wegen der hohen Abschreibungen enorm. So muss die Gothaer Gruppe 100 Mio. Euro in ihren Lebensversicherer pumpen, damit er über die Runden kommt. Die Victoria Leben, die zur Münchener Rück gehört, erhält von der Zwischenholding Ergo einen dreistelligen Millionenbetrag. Andere Unternehmen haben den Kapitalbedarf noch nicht erklärt, es besteht allerdings kein Zweifel, dass auch sie hohe Millionenbeträge benötigen.

Zahlreiche Konzerne mit großen Lebensversicherungstöchtern haben in den vergangenen 15 Monaten ihr Kapital aufgestockt. Dazu gehören Allianz, Münchener Rück, Swiss Life, Zurich Financial und Generali. Insgesamt haben Europas Lebensversicherer mehr als 20 Mrd. Euro frisches Geld aufgenommen. „Die Konzerne versuchen mit allen Mitteln, finanzielle Flexibilität zu erreichen“, sagt Dirk Popielas, Assekuranz-Spezialist bei der Investmentbank Goldman Sachs.

Die Branche muss schärfer kalkulieren, zu Lasten der Versicherten. 2003 haben die Gesellschaften ihren Kunden im Schnitt 4,6 Prozent aufs Sparkapital gutgeschrieben, vor drei Jahren waren es sieben bis acht Prozent. 2004 wird der Zins noch einmal 0,5 bis 1 Prozentpunkte niedriger ausfallen als in diesem Jahr.

Die Versicherer haben hoch gepokert – und verloren. Die Überschussbeteiligungen (die über den Garantiezins hinausgehende Versicherungsleistung) überstiegen die Einnahmen, die die Konzerne am Kapitalmarkt erzielten. „Es gab einen erheblichen Wettbewerb über die Rendite“, sagt Reiner Will, Geschäftsführer der Rating-Agentur Assekurata, „man hat in die Zukunft geschaut und geguckt, wer verspricht am meisten?“

Die Entscheidung, den Aktienanteil im Portfolio zu erhöhen, hat sich für die Konzerne gerächt. Bereits 2002 klafften die echten Renditen und die gezahlten Überschüsse weit auseinander: Nach Berechnungen des Gothaer-Finanzvorstands Reinhard Blei hat die Branche insgesamt einen Verlust von drei Prozent auf die Kapitalanlagen erwirtschaftet – ihren Kunden zugleich aber einen Gewinn von 4,6 Prozent ausgezahlt.

Solche Subventionen kann sich selbst der Branchenprimus nicht mehr leisten: Die Allianz garantiert ihren Kunden vom kommenden Jahr an nur noch einen Zins von 4,5 Prozent, verglichen mit 5,3 Prozent im Vorjahr. Und der wird lediglich auf den Sparanteil der Prämien gezahlt – rund 80 Prozent des Beitrags. Der Rest geht für den Risikoschutz im Todes- oder Invaliditätsfall drauf sowie für die Provisionen. Fällt nun womöglich noch die Steuerbefreiung auf die Erträge, lohnt sich eine Police kaum noch. „Wenn man vom steuerlichen Aspekt absieht, ist die Lebensversicherung bestimmt nicht das attraktivste Produkt“, sagt Wolfgang Scholl, Versicherungsexperte bei der Verbraucherzentrale Bundesverband.

Zahlreiche Versicherer bereiten bereits den Rückzug aus dem Geschäft mit der deutschen Kapitallebensversicherung vor. Manager wie Axa-Chef Henri de Castries, der neue Allianz-Vorstandsvorsitzende Michael Diekmann oder Münchener-Rück-Chef Nikolaus von Bomhard betrachten den Klassiker nicht länger als Pflichtprodukt in ihrer Palette.

Die Marktführer machen einen wachsenden Teil des Geschäfts mit der betrieblichen Altersversorgung, die wegen der staatlichen Förderung für Angestellte lukrativer ist als eine private Police. Das Neugeschäft der Allianz Leben legte wegen des Booms bei betrieblichen Vorsorgeprodukten in den ersten neun Monaten des laufenden Jahres um 16,4 Prozent zu, weit mehr als die Gesamtbranche mit 7,7 Prozent. „Die großen Anbieter profitieren von ihrer starken Position im Geschäft mit der betrieblichen Altersvorsorge“, sagt Dirk Popielas. Der Goldman-Sachs-Experte ist fest davon überzeugt, dass der Markt in den nächsten Monaten eine Übernahme- und Fusionswelle erleben wird.

Der Kapitalbedarf steigt

Viele kleine Anbieter werden den künftigen Anforderungen nicht gewachsen sein. Der Druck auf die Branche wächst – nicht zuletzt in Brüssel und Berlin. Die Aufsichtsbehörden verlangen künftig, mehr Eigenkapital bereitzuhalten. Analog zu den Basel-II-Regeln für die Banken wird die so genannte Solvency II vorbereitet. Darin legen die Aufsichtsbehörden fest, wie viel Eigenkapital ein Versicherer benötigt, um bestimmte Geschäfte abschließen zu können. Die Summe bemisst sich nach dem übernommenen Risiko. Dazu zählen nicht nur Risiken wie das des Todesfalls oder eines Unfalls – auch Wagnisse am Kapitalmarkt müssen einbezogen werden.

Zugleich sind viele Versicherer verpflichtet, ihre Bilanzen bis 2007 auf den internationalen Standard IAS umstellen. Beide Neuerungen erfordern tendenziell eine höhere Eigenkapitalausstattung. Wer das Kapital nicht auftreiben kann, muss Zuflucht bei einem potenteren Anbieter suchen – oder aufgeben.

Daran wird das Entgegenkommen der Berliner Spitzenpolitik nichts ändern. Im Vermittlungsausschuss einigten sich Bundesrat und Bundestag zum Wochenbeginn darauf, die umstrittenen Steuervorschriften für Kranken- und Lebensversicherer zu ändern. Dadurch entgehen die Unternehmen einer rückwirkenden Sondersteuer auf Kursverluste am Aktienmarkt, die allein für 2003 auf mehr als 5 Mrd. Euro geschätzt wurde.

Die Rettung in letzter Minute verdankt die Branche intensiver Lobbyarbeit. Geholfen hat wohl auch die Tatsache, dass Hamburgs Finanzsenator Wolfgang Peiner bis vor zwei Jahren Vorstandschef der Gothaer Versicherungsgruppe war und in dieser Frage die CDU-Länder im Bundesrat anführte.

Mehr als einen Aufschub vermag Goldman-Sachs-Spezialist Popielas in der Entscheidung jedoch nicht zu sehen: „Der Markt kommt erst noch richtig in Bewegung.“

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Mit dem Fuß in der Tür:Die Lebensversicherungskonzerne lassen keine Chance ungenutzt,noch vor Silvester zu Abschlüssen zu kommen – Imagebank

Quelle: Financial Times Deutschland

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