Gewerkschaften fürchten drastische Einbrüche bei Beschäftigtenzahlen · Konzerne argumentieren mit Technik und Markt
VON Herbert Fromme, Anja Krüger und Friederike Krieger, Köln Zum ersten Mal seit Jahrzehnten erlebt die Versicherungswirtschaft in größerem Umfang Warnstreiks. Mitarbeiter bei Allianz, Aachen Münchener oder Victoria folgen Aufrufen der Gewerkschaft Verdi, die zurzeit Gehaltstarifverhandlungen mit dem Arbeitgeberverband der Versicherungswirtschaft führt.
Die Gewerkschaft fordert 4,5 Prozent mehr Gehalt. Die Arbeitgeber haben bisher kein Angebot vorgelegt, sondern wollen zuerst über einen von ihnen erstellten Katalog von Maßnahmen zur Flexibilisierung des Arbeitsalltags sprechen. Dazu gehört der Samstag als regulärer Arbeitstag – für den also keine Zuschläge gezahlt werden – ebenso wie eine Verlängerung der Arbeitszeit von 38 auf 40 Stunden.
Die Schärfe des Konflikts bezieht ihren Treibstoff aus der aktuellen Entwicklung der Arbeitsplatzsituation in der Assekuranz. Die Beschäftigten müssen mit Recht fürchten, dass die Branche massiv die Zahl der Beschäftigten reduziert. Das könnte ein Ausmaß wie bei den Banken annehmen. Dort sank die Zahl der Beschäftigten zwischen 1994 und 2004 von 780 000 auf 703 000, das entspricht 9,9 Prozent. Bei den Versicherern ging im selben Zeitraum die Zahl der Stellen von 250 000 auf 241 000 zurück, also nur um 3,6 Prozent.
Verdi lehnt den Flexibilisierungskatalog der Arbeitgeber ab. „Damit würden noch mehr Arbeitsplätze bedroht“, sagt Verdi-Vorstandsmitglied und Verhandlungsführer Uwe Foullong. Er fordert stattdessen arbeitsplatzerhaltende Maßnahmen. So will Verdi ein tariflich gesichertes Kündigungsverbot durchsetzen, nach dem Entlassungen bei hohen Gewinnen nicht gestattet sind.
Die Arbeitgeber verweisen auf Veränderungen in den technischen Möglichkeiten und im Markt. „Die Industrialisierung erreicht die Versicherer“, sagt Joachim Lemppenau, Chef des Versicherers Volksfürsorge und Vorsitzender des Arbeitgeberverbandes. „Viele Unternehmen hatten bisher die technischen Möglichkeiten, die die EDV bietet, noch nicht voll genutzt“, sagt Lemppenau. „Jetzt zwingt sie der Wettbewerb dazu.“
Die Branche steht unter erheblichem Kostendruck. Bis 1994 war der Markt reguliert, damit waren auch die Gewinne garantiert. Danach hatte die Branche eine Sonderkonjunktur bei ihren Gewinnen, weil die Aktienmärkte hohe Erträge abwarfen. Seit dem Aktiencrash hat sich das geändert. Auch der Markt ist heute völlig anders, die sprichwörtliche Kundenloyalität ist dahin. Millionen von Autofahrern wechseln gerade ihren KfZ-Versicherer. Gewinner sind die Billiganbieter. Wer bei den Kosten nicht mithalten kann, verliert Geschäft oder landet in den roten Zahlen.
Auch der Einbruch des Absatzes in der Lebensversicherung nach dem Wegfall des Steuerprivilegs wirkt sich negativ auf die Kostensituation aus. Die Abteilungen, die Anträge bearbeiten, sind trotzdem da und kosten – ob Neugeschäft kommt oder nicht.
Die andauernde Neuordnung der Assekuranz kostet ebenfalls Arbeitsplätze. Nach Fusionen brauchen die Unternehmen deutlich weniger Mitarbeiter – bisher in beiden Gesellschaften separat ausgeführte Arbeiten werden zusammengelegt. Ob Talanx und HDI, Provinzial Münster/Kiel oder die Umstrukturierung der Allianz – überall wird dieser Trend zumindest mittelfristig Arbeitsplätze kosten.
Einer der wesentlichen Treiber der Industrialisierung in der Versicherungswirtschaft ist der Einsatz so genannter Dokumentenmanagementsysteme. Das heißt: Anträge, Briefe, Abrechnungen oder Gutachten werden nicht mehr auf Papier bearbeitet, sondern durch Scannen digitalisiert und dem zuständigen Sachbearbeiter automatisch zugeordnet. Auf die elektronisch erfassten Informationen hat nicht nur er Zugriff, sondern auch andere Mitarbeiter, die sie benötigen. Vorteil für den Versicherer: Er kann zum Beispiel die Schadenabwicklung beschleunigen – und zwar mit weniger Personal als vorher. „Es gibt kaum einen Versicherer, der nicht mit Dokumentenmanagementsystem arbeitet“, sagt Petra Greiffenhagen, Vorsitzende des Branchenverbandes Organisations- und Informationssysteme.
Dadurch wird die Arbeit deutlich verdichtet. Wenn ein Fall abgearbeitet ist, schickt der Computer den nächsten. Und wenn bisher die Niederlassung Hamburg nur Schäden aus Hamburg bearbeitete, erhalten Mitarbeiter bei Leerlauf auch Schadenakten aus Süd- oder Westdeutschland auf den elektronischen Schreibtisch – wenn die Niederlassung nicht gleich ganz geschlossen oder verkleinert wird. „Es gibt einen Trend zur Zentralisierung der Verwaltung“, berichtet Greiffenhagen. Sie ist Geschäftsführerin von Scanpoint Europe und begleitet viele Projekte zur Einführung von Dokumentenmanagement bei Versicherern.
Wie viele Stellen mit dem Einsatz solcher Systeme überflüssig werden, hängt davon ab, wie personalintensiv der Bereich vorher war. Greifenhagen schätzt, dass Unternehmen zum Beispiel in Poststellen im Durchschnitt auf 30 bis 40 Prozent der Beschäftigten verzichten können, die vorher mit diesen Aufgaben befasst waren.
Zitat:
„Die Industrialisierung erreicht die Versicherer“ – Joachim Lemppenau, Arbeitgeberchef –
Bild(er):
Mitarbeiter von Versicherern treibt die Sorge um ihren Arbeitsplatz auf die Straße. Sie demonstrierten gestern in Hamburg gegen Arbeitszeitflexibilisierung – dpa/Wolfgang Langenstrassen
www.FTD.de/versicherungen
Quelle: Financial Times Deutschland
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