Kleine Gesellschaften werfen den großen vor, die geplanten Eigenkapitalregelnviel komplizierter als nötig gestalten zu wollen
Herbert Fromme und Friederike Krieger
Karel van Hulle, Leiter des Referats Versicherungen und Altersvorsorge bei der Europäischen Kommission will sich für die wachsende Komplexität der EU-Eigenkapitalrichtlinie Solvency II nicht die Schuld in die Schuhe schieben lassen. Die Branche selbst habe zu der Überfrachtung beigetragen, betonte er jüngst auf einer Konferenz des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft zu Solvency II. „Ich besuche diese Veranstaltung, ich fahre nach Paris und London und komme dann im Jahr auf 1000 Änderungswünsche“, sagte van Hulle.
Viele kleine Versicherer geben ihm in diesem Punkt Recht. Ihrer Ansicht nach haben vor allem die zahlreichen Eingaben großer Gesellschaften das Modell unnötig verkompliziert. Sie fürchten, dass die Vormacht der Marktführer durch die neuen Vorschriften gestärkt wird. „Der Umsetzungsaufwand für kleine und mittlere Unternehmen ist sehr hoch, vielleicht zu hoch“, sagt Thomas Krüger von der Versicherungsgruppe Hannover (VGH). Auch Brigitte Wallscheid von der Rheinland Versicherung in Neuss ist nicht begeistert. „Wir erleben ein Frustloch“, sagt sie. Die Vorbereitungen auf die Eigenkapitalrichtlinie verursachten bei dem Versicherer einen Stillstand des normalen Tagesgeschäfts.
Solvency II soll Anfang 2013 in Kraft treten. Das Regelwerk soll die Versicherungsbranche transparenter und krisenfester machen. Es wurde aufgrund der Aktienkrise 2001 bis 2002 entwickelt und nach der Finanzkrise 2008 noch einmal verschärft. Solvency II soll verhindern, dass Versicherer pleitegehen und für Verpflichtungen gegenüber ihren Kunden oder Geschädigten nicht mehr aufkommen können. Die Richtlinie sieht eine europaweit einheitliche Kapitalausstattung für Versicherer, Regeln für das interne Risikomanagement sowie umfangreiche Berichtspflichten an die Aufsicht und die Öffentlichkeit vor. Zum Risikomanagement und den Berichtspflichten hat die Bundesregierung schon Rechtsverordnungen erlassen, die bereits heute gelten.
Noch nicht in trockenen Tüchern ist die Festlegung der nötigen Eigenmittel. Das aufsichtsrechtlich geforderte Kapital wird künftig nicht mehr anhand des Geschäftsvolumens ermittelt, sondern im Wesentlichen anhand der eingegangenen Risiken. Die Gesellschaften müssen Eigenkapital nicht nur für Versicherungsrisiken, sondern auch für Risiken aus Kapitalanlagen vorhalten. Je riskanter ein Versicherungsvertrag oder eine Kapitalanlage, desto höher der Kapitalbedarf.
Die Branche ist sich uneinsDerzeit läuft noch der vorerst letzte Test der neuen Eigenkapitalregeln, die sogenannte fünfte quantitative Auswirkungsstudie (QIS 5). Dabei füttern die Gesellschaften Finanz- und Risikodaten in das Modell, um die Auswirkungen von Solvency II auf ihr Unternehmen abzuschätzen, und melden das Ergebnis der Finanzaufsicht BaFin. Im Jahr 2011 will die EU-Kommission auf Basis dieser Angaben die letzten Einzelheiten festlegen. Dann kristallisiert sich heraus, welche Gesellschaften genügend Eigenmittel haben und wer noch nachlegen muss. Je nachdem, wie die Versicherer abzuschneiden hoffen, fällt auch ihr Urteil über Solvency II aus. Während einige Gesellschaften den Untergang des Versicherungsabendlands mit der Einführung von Solvency II verknüpfen, fällt das Gesamturteil der Allianz über die neuen Regeln positiv aus. „Wir sind mit Solvency II auf dem richtigen Weg“, heißt es beim Branchenriesen.
Große Gesellschaften wie Allianz, Talanx und Munich Re setzen bei der Beurteilung der Risiken ihres Geschäfts nicht auf die Standardmodelle, sondern entwickeln interne Konzepte, die sie von der Aufsicht prüfen lassen. Die Versicherer fürchten, dass das Standardmodell den Besonderheiten ihres Geschäfts nicht genügend Rechnung trägt – und sie am Ende mehr Eigenkapital vorhalten müssen als eigentlich nötig ist. Ein internes Modell zu entwerfen ist allerdings vor allem für kleinere Gesellschaften sehr aufwendig. Die BaFin hat den Versicherern Hilfe angeboten, hat aber selbst noch Probleme, die nötigen Fachkräfte für die Zertifizierung interner Modelle zu rekrutieren.
Besonders hart könnte Solvency II die Lebensversicherer treffen. Denn in den Policen schlummern hohe Risiken. Die Gesellschaften haben Millionen Kunden Zinsgarantien von durchschnittlich 3,4 Prozent gegeben, bekommen aber selbst kaum 2,5 Prozent Zinsen, wenn sie heute neues Geld in deutschen Staatsanleihen anlegen. „Für Kapitallebensversicherungen mit Garantien werden die Versicherer einiges an Kapital vorhalten müssen“, sagt Martin Albers, Vorstandsmitglied der Swiss Re. Er rechnet damit, dass die Lebensversicherer ihr Geschäftsmodell ändern. Bei Risikolebensversicherungen sei der Kapitalbedarf wesentlich geringer. „Viele Gesellschaften werden daher ihr Portfolio optimieren“, sagt er.
Hauptanliegen der Lebensversicherer ist es momentan, die EU zu einer Änderung der sogenannten Zinsstrukturkurve zu bewegen. Sie wird dazu benutzt, um die nötigen Reserven der Gesellschaften für lang laufende Risiken zu berechnen. Die Kurve gibt an, mit welchem langfristig zu erwartenden Zinssatz die künftigen Verbindlichkeiten auf ihren heutigen Wert abgezinst werden müssen. Die Lebens- und Rentenversicherer müssten hier derzeit mit unrealistischen Zinsannahmen rechnen, kritisiert Jan Martin Wicke, Vorstand der Wüstenrot & Württembergischen und Vorsitzender des Risikomanagement-Ausschusses des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft. „Die Annahmen über die Zinsen in 20 oder 50 Jahren beruhen auf Preisen in Märkten, die nicht über ein angemessenes Volumen verfügen“, moniert er. Die Werte seien daher recht willkürlich gewählt und führten dazu, dass ein Versicherer wesentlich mehr Reserven vorhalten muss als ein Industriebetrieb, der eine betriebliche Altersvorsorge anbietet. „Es kann nicht das Ziel der Politik sein, die unregulierte Altersvorsorge zulasten der regulierten zu fördern“, sagt er.
Ein weiterer Kritikpunkt sind die Eigenmittelanforderungen bei den Kapitalanlagen. „Unter Eigenkapitalgesichtspunkten betrachtet, regt Solvency II in der jetzigen Form dazu an, möglichst wenig in Aktien und möglichst viel in Staatsanleihen zu investieren“, sagt Carsten Zielke, Versicherungsexperte der Société Générale. Für Aktien aus der EU und dem OECD-Raum müssen die Versicherer nach den derzeitigen Plänen zusätzlich zum Investmentbetrag 39 Prozent an Risikokapital vorhalten, bei Werten aus Schwellenländern sogar bis zu 49 Prozent. Wenn sich die Aktienmärkte in den vergangenen Jahren besonders positiv entwickelt haben, können die Kapitalanforderungen zudem um bis zu zehn Prozent heraufgesetzt werden, weil dann die Wahrscheinlichkeit von Kursverlusten hoch ist. Bei Staatsanleihen ist dagegen zunächst keine Eigenkapitalunterlegung erforderlich – selbst dann nicht, wenn Länder wie Griechenland, Spanien oder Portugal die Papiere ausgegeben haben und das Ausfallrisiko höher ist als bei Bundesanleihen.
Dass Aktieninvestments kostspieliger werden, ärgert die Versicherer nicht nur unter Renditegesichtspunkten, sondern auch im Hinblick auf eine mögliche Inflation. „Um mich als Versicherer vor einer Inflation zu schützen, benötige ich Aktien und Immobilien“, sagt Zielke. Doch auch für Immobilien müssen die Versicherer 25 Prozent Eigenkapital vorhalten.
Quelle: Financial Times Deutschland
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